Kritische Vordenker außer der Reihe

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  Uwe Topper, Berlin · 2009topper(neue Fassung 2015)

Kritische Vordenker außer der Reihe

Unter diesem Titel möchte ich einige wenig bekannte Autoren erwähnen, die für die revolutionäre Entdeckung von Heinsohn, Blöss, Niemitz und Illig wie vorarbeitende Forscher gewirkt haben, ohne daß ein direkter Zusammenhang erkennbar wäre.
Die besser bekannten Außenseiter wie Pallmann, Dacqué, Muck und Kaiser werde ich hier nicht noch einmal erwähnen, über sie gibt es einzelne Besprechungen auf unserer Seite. Hier kommen Randfiguren zu Wort.
Als erster ein Frühvollendeter der Romantik, Carl Gustav Jochmann (1789–1830) aus Riga, der Westeuropa bereiste und in Deutschland viele Jahre lebte und die Historiker Adelung und Radlof sowie den Homöopathen Hahnemann kannte, hat selbst wenig veröffentlicht. Ein aus seinem Nachlaß herausgegebener Band mit Aphorismen und Glossen (Kiepenheuer Verlag Leipzig und Weimar 1980, mit Kommentaren des Herausgebers) enthält eine merkwürdige Betrachtung „Von deutscher Urgeschichte“ (S. 132-136), aus der ich einige Absätze zitieren möchte:
»Die Unterhaltungen mit dem deutschen Sprachforscher, Herrn Radlof, im Emser Bade (1820), waren für mich sehr unterhaltend. Der liebe Mann hatte zwar seine kleinen Wunderlichkeiten und für sein Lieblingsstudium ein wahres Fieber, das kein ‚intermittierendes’ war, aber er hat mich damit angesteckt.
...
Ein alter Kirchenvater, es fällt mir itzt nicht ein, welcher, hat bemerkt, daß 2500 Jahre vor Christi Geburt der Planet Venus Gestalt, Farbe und Laufbahn verändert und damit die ungeheuern Kataklysmen, oder, im biblischen Stil zu reden, Sündfluten auf Erden, hervorgebracht habe. Es ist mir unbekannt, woher er dies erfahren hat. Aber einem Heiligen muß man auf’s Wort glauben. Genug, man kann sich daraus so gut als aus anderen astronomischen Hypothesen den Untergang der alten Atlantis, die Palmenüberbleibsel bei Bonn und am baltischen Meere, die ehemaligen Olivenhaine an der Weichsel usw. erklären, wenn man will.
Aber auch, wenn man will, die ersten Völkerwanderungen aus Asien, und zwar den Zug jener 19 Stämme nach Europa 2000 Jahre vor Christi Geburt, von denen indische Geschichtschreiber oder Poeten Meldung tun. Ihre Stammnamen sollen noch in neueren Völkernamen erkennbar sein.
...
Daß der deutsche Stamm schon Genosse einer höheren Kultur war, als er sich später rühmen konnte zu sein, ist für einen guten Sprachforscher ziemlich offenbar. Das Wort Stahl ist in allen deutschen Mundarten üblich. Die Römer nannten ihn, wie die Griechen, Chalybs. Im Altägyptischen heißt er Stahli; und Clemens von Alexandrien, im zweiten Jahrhundert unserer Zeitrechnung, er, dem die Schätze der alexandrinischen Bibliothek zu Gebote standen, erzählt, die Kunst Eisen zu härten sei im Noricum erfunden. Somit ist es möglich, daß die ägyptischen Pharaonen beim Bau der Pyramiden schon steiermärkisches Eisen gebraucht haben. Was kann folgerechter sein?
Aus der Buchstabenschrift der ältesten Völker läßt sich nicht viel beweisen, doch sieht die Runenschrift der persepolitanischen Keilschrift nicht ganz unähnlich. Runen waren die Schriftzüge der alten Hetruisken, Skandinavier und Keltiberer. Cäsar erzählt zwar, die Helvetier hätten mit griechischen Buchstaben geschrieben; es waren aber Runen, die mit den griechischen Schriftzeichen Ähnlichkeit besitzen.
Der indische Stamm der Kelten, Celten oder Galen oder Gallier erstreckte sich von Skythien bis Iberien. Der Sprachgebrauch aller Jahrhunderte bis Cäsar beweiset es. Dieser Cäsar brachte zuerst die Benennung Germanen in seinen Kommentarien auf, ohne Zweifel aus politischen Absichten.
...
Vor Cäsar braucht kein Schriftsteller das Wort Germanien; und wenn später, wie Plinius und Justin, es von früheren Zeiten brauchen, so bedienen sie sich der Bezeichnung aus ihrer eigenen Zeit. Cäsar ließ auch sogar, wie uns Sueton verraten hat, ältere Schriftsteller ‚emendieren’, das heißt verfälschen. (Der Kommentator sagt, daß in Suetons Schriften dergleichen (heute) nicht zu finden sei). Solange er lebte, durfte nicht an der Angabe des mächtigen Mannes gezweifelt werden. Nachdem seine Dynastie aber untergegangen war, kam die Wahrheit an’s Licht; daher die Bemerkung von Tacitus: ‚Ceterum Germaniae vocabulum recens et nuper additum.’« - (Der Kommentator übersetzt: ‚Dagegen sei die Bezeichnung Germanien jünger und vor nicht langer Zeit aufgekommen.’ Ich würde sagen: ‚Übrigens ist Germania ein neues Wort und erst kürzlich zugefügt’).
Nach einer Bemerkung über einen zeitgenössischen Historiker, der sogar Stellen alter Autoren verfälscht, um seinem König und Auftraggeber genehm zu sein, was Jochmann nicht billigt, weil er sich als „human genug“ empfindet, fährt er fort:
»Unsere keltischen Vorfahren in Deutschland müssen auch nicht so ganz unzivilisierte gewesen sein, wie man sich wohl mitunter einbildet. Man beruft sich vergebens auf Tacitus, daß sie noch keine Städte gehabt hätten. Er sagt ja nur, sie hätten keine Urbes gehabt. Urbs heißt immer nur, was bei uns Residenz, Regierungssitz, und ist mithin nur politisch von oppidum verschieden, was auch eine größere Stadt sein konnte. Nun freilich Regierungssitze hatten die Deutschen auch in späteren Zeiten nicht, sondern Hoflager und Tagfahrten. – Übrigens, wenn Tacitus Germanien beschreibet, hat er seinen Standpunkt am Niederrhein, wo er Beamter gewesen sein muß. Das erklärt vieles.
Gewiß hatten die Deutschen auch in Germanien Städte, nur hießen sie nicht so. Im Altdeutschen bedeutet Burg eine Stadt; daher in alten Übersetzungen die Burg Jerusalem, die Burg Babylon, die Burg Rom. Die ‚Bürgte’, wo man geborgen ist vor feindlicher Gefahr. Sagt nicht Cäsar schon, lange vor Tacitus, daß die Helvetier ihre zwölf Städte (oppida) verbrannt hätten, als sie nach Gallien auszogen? «

Hier breche ich das Zitat ab, eine wirklich erfrischende Lektüre. Natürlich fragte ich mich zuerst, wer wohl der Kirchenvater oder Heilige war, der diese (durch Velikovsky mit starkem Nachdruck behauptete) Veränderung der Venus kannte. Jochmann kann sich leider nicht an den Namen erinnern. Ich fand ihn auch nicht.
Jochmanns Hinweise zu Tacitus und zur Stahlherstellung sind wegweisend - aber erst für unsere heutige Sicht. Auffällig ist, daß hier nicht nur Radlofs Ideen von den Kelten vertreten werden, sondern auch schon die Indogermanenthese, die später mit so vielen Verdrehungen Anhänger fand. Hätte Jochmann diese begeisterte Übernahme von Radlof nur weitergeführt – aber er starb jung, mit 41 Jahren an Lungenschwindsucht in Naumburg an der Saale.

Wenn hier Edgar Dacqué nicht genannt wird, der die großen Katastrophen in der Frühgeschichte des Menschen verankerte, und ebensowenig Hörbiger und Fauth, die mit ihrem fantastischen Szenario hin und wieder Jahrmillionen zu Monaten und gar Tagen schrumpfen ließen (z.B. bei der Entstehung der Kohleflöze), die sich aber zur Menschheitsgeschichte meines Wissens nicht in dieser Form äußerten, erwähne ich andere Zeitgenossen, die sich manchmal recht drastisch ausgedrückt haben, wie Altheim, Blüher und Spengler. In meinem Buch „Erfundene Geschichte“ (1999, S. 128 f) schrieb ich:
„Grundlegend war Oswald Spenglers Ansatz mit seinem Jahrhundertbuch: »Der Untergang des Abendlandes« (1918-22). Er nannte das konstantinische Recht arabisch und kalifal (TB-Ausgabe 1979, S. 636), was weder in Bezug auf Sprache noch Inhalt der Gesetzgebung Konstantins im 4. Jahrhundert zutreffen kann, aber eben doch den Sachverhalt der Gleichzeitigkeit genau beschreibt. Spengler beruft sich auf mehrere gelehrte Vorgänger bei seiner Erklärung, der Islam sei direkt aus der Spätantike im 4. Jh. entstanden und habe im 5. Jahrhundert seine volle Kraft entfaltet. Die damit implizierte Zeitverschiebung übergeht er, weil er weiß, daß er etwas Wesentliches erkannt hat. Seine Einstellung zu Zahlen ist ohnehin weitsichtig: »Eine Zahl an sich kann es nicht geben, ... sondern indischen, arabischen, antiken, abendländischen Zahlenbegriff, jeder von Grund auf eigen und einzig.« (S. 79)“

Ein Zeitgenosse war Gustav Wyneken. Der große Erzieher schrieb in seinem Hauptwerk „Weltanschauung“ (1934 bis 36 geschrieben und in erster Auflage sogleich verkauft, dann aber von der damals herrschenden Partei untersagt, die 2. Auflage erschien erst 1947 mit amerikanischer Lizenz) einen Satz, der stutzig macht:
„Es gehört zu den merkwürdigsten Erkenntnissen auf dem Gebiet der menschlichen Geistesgeschichte, daß schon der Mensch des Diluviums – der, nach wohl übertriebener Schätzung, Jahrhunderttausende, sicherlich aber Zehntausende von Jahren vor uns gelebt hat, und der jedenfalls vom heutigen Menschen sich noch durch tierähnliche Merkmale seines Baues erheblich unterscheidet – daß dieser Urmensch bereits seine Toten bestattet und ihnen Werkzeuge, Waffen und Schmuck mit ins Grab gegeben hat, was unzweideutig seinen Glauben an ein Fortleben nach dem Tode beweist.“ (2. Aufl. S. 180).
Damit wird die damals schon ausgeuferte Zeitspanne für die Menschheitsentwicklung auf ein Zehntel verringert. Was hätte er erst zu den Millionen Jahren gesagt, die heute gelehrt werden?
Die vorsichtige aber doch eindeutige Ausdrucksweise Wynekens, der niemanden verletzen oder umerziehen möchte und seine Erkenntnis nur als Einschub bringt, auf diesen aber nicht verzichten will, macht deutlich, daß dieses Wissen, es handele sich bei den Hunderttausenden von Jahren um übertriebene Schätzung, während Zehntausende schon groß genug sind („sicherlich“ heißt hier nicht „sicher“, sondern „wohl, vermutlich“) durchaus naturwissenschaftlich erworben ist, denn es wird zusammen mit den tierähnlichen Merkmalen des Körperbaus diluvialer Menschen gebracht.
Da Chronologie (leider) nicht zu seinemThemenkreis gehörte, erfahren wir nicht mehr über seine Anschauungen in dieser Hinsicht. Ganz sicher war er seinerzeit nicht der einzige, der „vernünftig“ weiterdachte, während um ihn herum die Inflation der Jahreszahlen ausgebrochen war.

Im Sinne von Spenglers Definition von Geschichte zitierte ich (2001, S. 255 f) auch Friedrich Gundolf (bürgerlich Gundelfinger, 1880-1931), der – ohne die Jahreszahlen selbst einer Prüfung zu unterziehen – den Arbeitsgang der Historiker durchleuchtet hat. Gundolf legt an die deutsche Geschichtsschreibung nicht den Maßstab der »Tatengeschichte« an (das wäre illusorisch), sondern die Kriterien der Literaturgeschichte. Damit dringt er in den Kern des Geschichtsbewußtseins vor. Historiographie, sagt er, ist der eigentliche Hersteller der Geschichte und damit in einem erkenntnistheoretischen Zusammenhang der Verursacher der Geschichte. Zusammengefaßt: Geschichte ist nicht Niederschrift geschehener Taten, sondern Widerhall des Eindrucks, den einige Taten hinterlassen haben. Die Helden sind geschichtlich wahr, sagt Gundolf, »weil sie nach tausend jahren sind, nicht weil sie vor tausend jahren waren.« (1912; zit. in Raulff 122). Ruhmrede ist ein Schlüsselbegriff für Gundolf, er begreift sie als das Motiv aller Geschichtsschreibung. Das gemahnt mich an Ulrich von Hutten, der die Totenklage für den großen Cherusker als Aufruf zur Loslösung von Rom verfaßte. Im engeren Sinne ist es also ein religiöses Motiv, stellt Gundolf in seiner an der Edda geschulten Sichtweise fest, etwa wie die Romantiker glaubten: »Aber was bleibet, schaffen die Dichter.« Darum nennt Gundolf den wahren historischen Sinn »Divination« (1921, S. 49). Man könnte sagen: Vergöttlichung (was im Zusammenhang mit Cäsar einleuchtet).
Im Grunde ist dies ein Gegenschlag. Man hatte sehr wohl gemerkt, wie brüchig das Eis der Überlieferung ist. Durch immer schärfer angesetzte Kritik war man an einen Punkt gelangt, wo sich die Historie selbst in Nichts auflöste. So wie sich aus der theologischen Zerlegung der Schriften des Neuen Testaments ergeben hatte, daß dieser Jesus nicht gelebt haben konnte, so würden auch alle anderen Gestalten wie Nebel verwehen, Cäsar und Alexander so gut wie Sesostris und Darius. Dagegen half nur der Sturm nach vorn: gläubige Bejahung der eigenen Geschichtsvorstellungen zum Zweck der Weitergabe einer Ordnung, die dem Gemeinschaftsgefüge den Halt gibt. Zwar wird die Vergangenheit damit zur Illusion, aber die Gegenwart der Geschichtsbilder wird zur unanfechtbaren Wirklichkeit. Dieses von Stefan Georges Weltschau inspirierte Ergebnis birgt schon eine der Grundforderungen der neueren Chronologiekritik.

Nun noch ein skurriler Zeitgenosse, der etwas eigenartige Schriftsteller Ernst von Salomon, der für seinen „Fragebogen“ (Rowohlt 1951, in der Buchklub-Ausgabe 805 Seiten) ausführliche Nachforschungen bezüglich der Herkunft seiner Ahnen angestellt hat, schreibt auf S. 69, daß nach den venezianischen Kreuzfahrern erst im 16. Jh. wieder zwei Vertreter dieser Adelsfamilie verzeichnet sind. Salomon erzählt:
„Wann waren die Kreuzzüge?“ fragte Ille.
„Der erste war um 1096 herum, der fünfte und letzte 1220“, sagte ich bescheiden.
„Und während der ganzen Zwischenzeit, dreihundert Jahre lang, soll man von so einer erlauchten, ritterlichen Kreuzfahrerfamilie nichts gehört haben? Kaum zu verstehen!“
„Vielleicht“, schlug mein Bruder vor, „ist in den dreihundert Jahren in Venedig nicht viel Gelegenheit zur Auszeichnung gewesen.“
„Oh“, sagte ich, „da irrst du sehr. Das sind eigentlich die drei Jahrhunderte, in der alle großen geschichtlichen Entscheidungen fielen. Ganz abgesehen davon, daß gerade dies die Glanzzeit Venedigs war ...“
Ernst von Salomon, der Ich-Erzähler, hat es also auch gemerkt, findet aber nicht die einfache Lösung: daß die beiden Ahnherren Felippo di Gasparo, geboren 1530 und gestorben 1578, und Simon di Giulio, geboren 1547 und gestorben 1606, die in Venedig urkundlich erfaßt sind, durch eine chronologische Verschiebung 300 Jahre (statt kurz) nach dem letzten Kreuzzug aufgeführt werden. Oder anders: daß die Kreuzzüge im 16. Jh. erst enden.
Was uns hier narrt ist die von mir häufig bemerkte aber immer noch nicht völlig erklärte Versetzung der italienischen gegenüber den mitteleuropäischen Jahreszahlen.
In Sachen tibetischer Chronologie wurde ich erstmals 1987 auf die Zeitverschiebung aufmerksam, wie ich aus meiner Anstreichung in dem bekannten Buch des 14. Dalai Lama „Mein Leben und mein Volk“ (a.d.Engl., Knaur München, 1962) nachträglich ablese, wo im Geleitwort des bekannten Tibetologen Prof. Dr. Helmut Hoffmann (München) steht, daß die Chronologie der Tibeter, wie sie der Dalai Lama darstellt, für die Zeit des 7. bis 9. Jh.s nicht mit der von den Europäern erstellten übereinstimmt. Die tibetische Chronologie gründet sich auf die „Chronik des 5. Dalai Lama“, die europäische ist rückerschlossen aus den Annalen, die im Sande Turkestans gefunden wurden, sowie auf einzelne Angaben chinesischer Historiker.
Das ist zwar nur ein knapper Hinweis, aber er besagt zweierlei: Die Europäer haben die Chronologie Tibets nicht nach tibetischen Quellen erstellt, sondern von außerhalb (Turkestan, China), und: der Zeitraum der Diskrepanz zwischen einheimischer und europäischer Rückberechnung betrifft ausgerechnet die 300 Jahre, die Illig seit 1991 streicht! Für Turkestan dürften Vergleiche mit fremden Chronologien den Ausschlag gegeben haben, denn eine eigene Jahreszählung jener Kultur, die noch dazu an eine heutige angebunden wäre, ist nicht bekannt. Für China ist die Chronologie durch die Jesuiten geschaffen worden und daher um die 300 Jahre verlängert, wie ich ab 1995 in Illigs Kreis vorstellte (zusammengefaßt im Buch „Die Große Aktion“ 1998).
Übrigens gilt laut 14. Dalai Lama (1962, S. 11) als erste in Tibet bekannte Inkarnation der Karma Rolpai Dordsche, der das Kloster Schar Tsong Ridro gründete, in dem der große Reformator Tsong Khapa im 14. Jh. geweiht wurde. Der erste Dalai Lama (S. 16) wurde 1391 geboren als Wiedergeburt von Tschenresi, dem Boddhisatva der Gnade. Das alles weist auf einen rückberechneten Neubeginn im ausgehenden 14. Jh. hin, den Titel Dalai-Lama gibt es erst seit 1578.
Und das entspricht meinem jetzigen Wissensstand.

Der sonst so humorvolle Erich Kästner läßt doch allen Ernstes in der Vorrede zum »Kleinen Grenzverkehr« (1938/ 1973, S. 8f) seinen Freund aussprechen, was er und viele damals dachten: »Bei Antike und Christentum handelt es sich um zwei Krankheiten, die an einem Organismus namens Mitteleuropa zehren, sodaß ungefähr seit dem Jahr 1000 p.Chr.n. der genannte geographische Bezirk für den Kulturhistoriker ein pathologischer Fall ist.« (von mir zitiert in „Fälschungen der Geschichte“ 2001, S. 115).
Hier ist nicht nur die Datierung beachtenswert, nämlich AD 1000, also viele Jahrhunderte nach der offiziellen Christianisierung von Köln, Paris oder London, sondern auch der Hinweis auf den Kulturhistoriker (wie Spengler usw.), der das Krankheitsbild als erster erkennen muß.

Witzig wie ein Comik-Streifen wird die Zeitverkürzung (vorgeblich schon 1982 vorgetragen, postum veröffentlicht 1997) von einem angesehenen Historiker dargestellt: »Ich schlage vor, die 1200 Jahre zwischen 200 n.Chr. und 1400 n.Chr. herauszuschneiden, den herausgeschnittenen Streifen durch 200 neu zu komponierende Jahre zu ersetzen und den so korrigierten Film in Elitekinos laufen zu lassen – in der Hoffnung, die Handlung des Films deutlicher und unterhaltsamer zu gestalten. Tatsächlich enthält der wegzuwerfende Streifen verworrene und vom Hauptthema unnö-tig ablenkende Szenen.« Das schreibt der Historiker Vilém Flusser (1997, S. 263) und malt das Szenario ergötzlich breit aus, wobei der dahinterliegende Ernst durchaus spürbar bleibt. Der Fund wird von Illig mit Verwunderung besprochen (in ZeitenSprünge 2/2000, S. 314f.) Bei Flusser verschmilzt der heilige Augustinus mit dem heiligen Thomas zu einer Person, er wird ein »karthagischer Germane«, dessen Arbeit später von Luther und Calvin wieder aufgenommen wird. Duns Scotus vereinigt sich mit Maimonides. Also nicht nur das uns nun schon gewohnte Herausschneiden von glatt tausend Jahren, sondern auch die Zusammenführung der Romangestalten der Historie, bei uns etwa Mohammed mit Arius oder Karl d.Gr. mit Barbarossa, ist von Flusser also schon entworfen worden.
Durch die Ausführungen ist allerdings Flussers Methode näher erkennbar: Man schneide ein Stück aus der Geschichte, füge die Enden zusammen und glätte die Klebestelle; dann haben wir einen neuen Geschichtsroman, der unsere augenblicklichen Wünsche erfüllt. Das führt an unserer eigentlichen Arbeit vorbei, ja es macht sie unglaubwürdig.

Mit Flusser (1997) kommen wir dem Zeitgeist schon nahe, denn 1991, haben Niemitz und Illig erstmals ihre These vom erfundenen Mittelalter in Berlin und München bekanntgemacht. Im selben Jahr veröffentlichten unabhängig voneinander Rainer Daehnhardt (in Lissabon) über die Templer und Julio Caro Baroja (in Barcelona) über den Thubalismus ihre Kritiken an der Geschichtsschreibung. Daß zwischen Daehnhardt und Baroja gegenseitige Anregungen vorliegt, kann wohl ausgeschlossen werden; und Niemitz wie Illig kannten die beiden ebensowenig. Alle drei Veröffentlichungen geschahen 1991. Wie nun speziell die Mittelalterkürzung entstanden ist, müßte man den (inzwischen verstorbenen) Urwegtheoretiker Herbert Reichel sowie den noch lebenden Peter Mikolasch und den verschollenen Thomas Riemer fragen, die bei einem Treffen in Wien im trauten Gespräch mit Illig 1991 die ersten Anstöße gaben (siehe Geburtstagsgabe für Heribert Illig, Hrg. Otte 2007).
Den ersten Hinweis auf das überragende und seitdem unverzichtbare Werk von Wilhelm Kammeier hat im Illigschen Kreise (laut Z. A. Müller in Otte, Hrg., 2007, S. 90 f) Thomas Riemer 1991 gegeben.
Wenn sich auf diese Weise auch einige Wege zurückverfolgen lassen, so bleibt doch der plötzliche und heftige Ausbruch 1991 – in Spanien und Portugal zeitgleich mit München – rätselhaft.
Mit den oben erwähnten frühen Vordenkern, die manchmal nur hier und da im Nebensatz etwas von ihrem Wissen verrieten, steht es noch schwieriger. Waren sie angeschlossen an eine lange nie zerrissene Kette bewußter Weitergabe, die zuweilen unteridisch, seltener in offenen Vorstößen seit dem verheerenden Lyellschen Sieg weiterlief? Sind ihre Hinweise nur deswegen so sparsam und spärlich, weil sie sich nicht dem Spott der Kollegen oder gar der Ausweisung aus dem akademischen Tempel aussetzen wollten? Oder merkten sie es selber nicht so recht und hatten nur eine dunkle Ahnung, nicht aber ein genaueres Modell vorzuweisen?

Literaturhinweise

Adelung, Joh. Chr. (1806): »Aelteste Geschichte der Deutschen« (Leipzig)
Blüher, Hans : »Die Aristie des Jesus von Nazareth« (Prien 1921)
Daehnhardt, Rainer: »A Missão Templária nos Descobrimentos – Les Templiers et les Grande Découvertes« (zweisprachig, Quipu; Lissabon 1991/1999)
Dalai Lama : »Mein Leben und mein Volk« (a.d.Engl., Knaur München, 1962)
Flusser, Vilém : »Nachgeschichte. Eine korrigierte Geschichtsschreibung« (Fischer TB, Frankfurt/M 1997)
Friedell, Egon : »Kulturgeschichte der Neuzeit« (1927/31; 2 Bde., München 1976)
Gundolf, Friedrich: »Cäsar in der deutschen Litteratur« (1912)
Heinsohn, Gunnar: »Wie alt ist das Menschengeschlecht?« (Gräfelfing 1991, 2. Aufl. 1996)
Illig, Heribert : »Die veraltete Vorzeit« (Frankfurt/M 1988; 2° Mantis, Gräfelfing 2005)
»Die christliche Zeitrechnung ist zu lang« in VFG 1–91 (Gräfelfing 1991)
Jochmann, Carl Gustav : »Die unzeitige Wahrheit« (Anf. 19. Jh., wieder aufgelegt im Kiepenheuer Verlag Leipzig und Weimar 1980)
Kästner, Erich: »Der kleine Grenzverkehr« (1938/ 1973)
Niemitz, Hans-Ulrich : »Kammeier, kritisch gewürdigt« in: VFG 3-4/91, S.92 (Gräfelfing 1991a)
»Fälschungen im Mittelalter« in: VFG 1/91 (Gräfelfing 1991b)
Otte, Andreas (Hrsg.): »Zeitenspringer – Heribert Illig zum 60. Geburtstag« (Verlag Andreas Otte, Oerlinghausen 2007)
Radlof, Johann Gottlieb »Neue Untersuchungen des Keltenthumes zur Aufhellung der Urgeschichte der Teutschen« (Bonn 1822) - (1823): Zertrümmerung der großen Planeten Hesperus und Phaeton (Berlin)
Wyneken, Gustav: »Weltanschauung« (1934 bis 1936/ 2. Auflage 1947)

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