Eine Phantomzeit von 300 Jahren?
Zuerst veröffentlicht als "300 Jahre Phantomzeit? - Kritische Kommentare" in: Vorzeit-Frühzeit-Gegenwart (VFG 4/94) (heute: Zeitensprünge, ZS). Gräfelfing, München.
Ilya U. Topper
Cádiz · 1994

Vorbemerkung: Dieser Beitrag wurde 1994 geschrieben und untersucht, ob die von Heribert Illig entwickelte These von 300 Jahren Phantomzeit im Mittelalter in Gebieten außerhalb Mitteleuropas eine Bestätigung finden kann. Der Autor zog damals noch nicht in Betracht, daß viele der Belege, auf die er sich stützt - Inschriften, Münzen, Manuskripte - auch spätere Fälschungen sein könnten, und nicht unkritisch akzeptiert werden dürfen. Der Beitrag wird hier trotzdem zugänglich gemacht, da einige der angeschnittenen Themen bisher nicht wieder zur Sprache gekommen sind, und eine Grundlage für weitere Forschung darstellen können. Allerdings wird durch 'Randkommentare' der neueste Wissensstand des Autors angedeutet, um voreilige Schlußfolgerungen zu verhindern.


Vorauszuschicken ist, daß eine sorgfältige Überprüfung der Geschichte des Mittelalters unumgänglich geworden ist. Die dabei zutage geförderten Ergebnisse dürften sich deutlich von den heute gültigen Annahmen unterscheiden. Gegen die These von Heribert Illig, daß vor allem rund 300 Jahre zu streichen seien, sprechen allerdings einige schwerwiegende Einwände. Abgesehen davon, daß mir die astronomische Notwendigkeit, 300 Jahre zu streichen, nicht stichhaltig erscheint, gab es bei meinen Untersuchungen über die kritischen Jahrhunderte in anderen Kulturen rund ums Mittelmeer sowohl Beobachtungen, die einen Sprung von mehreren Jahrhunderten bestätigen, als auch solche, die eine derartige These deutlich widerlegen. Die Ergebnisse sollen hier vorgestellt werden und zu weiteren Nachforschungen anregen. Beginnen wir unseren Rundgang in Spanien.
1. Spanien  

In Spanien, genauer gesagt im Reich der Westgoten, wurde fast ein Jahrtausend lang nach einer eigenen Zeitrechnung datiert: der ERA. Ihr Beginn ("Epoche") liegt dabei nach allgemeiner Ansicht auf dem 1. Januar des Jahres 38 v. Chr. Jedenfalls wurde das angenommen, als man diese Rechnung offiziell durch die Inkarnationszählung ersetzte: in Katalonien 1180, in Kastilien 1383, in Portugal erst 1422.
Die frühesten Dokumente der Era sind Grabsteine und Kirchenweihungsinschriften. Die ältesten mit den Angaben "392", "419" und "480" könnten nach Hübner [1871] auch einer anderen Rechnung zuzuordnen sein. Einhellig anerkannt ist die era jedoch ab der Zahl "504", die also 466 A.D. entspräche. Es sind insgesamt etwa 500 Inschriften bekannt, etwa die Hälfte davon sind Grab-, die anderen Kircheninschriften. Der größte Teil ist gut genug erhalten, um das ERA-Datum eindeutig bestimmen zu können. Nur in der Provinz Tarraconensis, dem heutigen Katalonien, wurde zur Gotenzeit nicht nach ERA, sondern nach römischen Konsuln datiert. Andere Steine tragen Datumsangaben nach dem Regierungsjahr des Königs. Durch Doppelangaben - Gotenkönig und ERA - können wir zumindest einige der westgotischen Herrscher als absolut datiert einstufen [Vives 1941].

Anmerkung: Hübner selbst belegt eine große Anzahl von gefälschten ERA-Inschriften, Vives weitere. Uwe Topper folgert nach eingehender Untersuchung, daß alle ERA-Steine als gefälscht angesehen werden müssen. Siehe Die ERA, eine spanische Zeitrechnung.

Wenn die Epoche der era wirklich auf -38 liegt, läßt sich die spanische Geschichte mindestens bis zum Jahr 731 era = 693 A.D. absichern. Die Annahme, daß ihre Epoche eventuell auf ein Jahr um -330 bezogen war und die heute gültige Fixierung erst nach dem Sprung der Inkarntionsrechnung aufkam, läßt sich dadurch widerlegen, daß schon auf Grabsteinen mit der Angabe "542 ERA " gotische Namen auftauchen, sogar als Kleriker, die im 3. Jh. gewiß fehl am Platze wären.

Die gotische Einwanderung um 415 ist durch den Zeitgenossen Paulo Orosio datiert, und zwar nach der römischen Stadtgründungsära. Die gleiche Datierung taucht - diesmal nach ERA - bei Isidor von Sevilla auf. Damit dürfte die ERA-Rechnung abgesichert sein. Daß erst ein knappes Jahrhundert später gotische Grabsteine auftauchen, ist verständlich, wenn man bedenkt, daß das Zentrum des Gotenreiches bis zur Wende vom 5. zum 6. Jh. in Gallien lag, und erst eine verlorene Schlacht 507 die Goten zur endgültigen Auswanderung nach Spanien zwang, das vorher nur dünn gotisch besetzt und außerdem zum Teil wandalisch, zum Teil auch suebisch besiedelt war.

Die westgotischen Münzen sind niemals datiert, tragen aber Königsnamen. Obwohl es schon seit Theoderid Gotenmünzen geben soll (um 450) [Mateu y Llopis lt. Vives 194l], sind sie doch erst ab Leowigild (573) häufiger [Königsnamen gemäß Matz 1992]. Bis dahin war vermutlich byzantinisches Geld im Umlauf, an dem sich die frühesten Münzen noch eng orientieren, sogar indem sie den Namen Justinians angeben. Leowigild unterwarf die Sueben, versuchte die byzantinisch besetzten Gebiete Spaniens zu erobern und schuf, wie Isidor es beschreibt, eine Art gotisch-spanisches Nationalbewußtsein. Doch erst sein Nachfolger Rekkared I., der 589 mit dem Volke zum Katholizismus übertrat, wurde von der gesamten Bevölkerung und der Kirche anerkannt. Bis hin zu Roderich, der 711 in der Schlacht gegen die Araber gefallen ist, sind alle Könige durch Münzen belegt [Barral 1976].

Wie gut ist nun Isidor von Sevilla, unsere Hauptquelle für das gotische Spanien bis 630, belegt? Dieser Bischof von Sevilla, dessen Name auch in zwei Konzilsprotokollen auftaucht, soll von 560 bis 636 gelebt haben. Er gilt als Autor von mindestens 14 Schriften, die ein Zeitgenosse und Freund, Braulio von Zaragoza, in seinem Nachruf aufzählt. Das berühmteste Werk sind die Etymologien, von denen sich hunderte Kopien, darunter eine ganze Anzahl aus dem 8. und 9. Jh., in Europa erhalten haben. Eine Fälschung scheidet hier wohl aus.
Außerdem besitzen wir einen 'Kronzeugen': den Bischof Pimenius von Medina Sidonia (heute Provinz Cádiz), der im 4. toledanischen Konzil (633) neben Isidor unterschreibt, außerdem am 5. (638) teilnimmt und sich beim 7. (646) vertreten läßt. Dieser Bischof Pimenius ist auf drei Kirchenweihinschriften der Provinz Cádiz vertreten. Es wird jedesmal außer dem ERA-Datum der genaue Monatstag angegeben, außerdem das Jahr der Amtszeit des Bischofs. Die Angaben stimmen überein, das angegebene Datum fiel tatsächlich jedesmal auf einen Sonntag. Die Jahre sind 630, 644 und 662 [Hübner 1871, Vives 1941]. Damit dürfte klar sein, daß das 7. Jh. in Spanien historisch gut belegt ist und weder die Konzilienberichte noch die Person Isidors völlig frei erfunden sein können.
Anmerkung: Uwe Topper hat nach eingehender Untersuchung der erwähnten Kircheninschriften diese als manipuliert erkannt.Siehe
Die ERA,..
Wie gut sind nun das 8. und 9. Jh. durch Inschriften belegt? Aus dem 8. Jh. kennen wir tatsächlich nur eine Altarweihinschrift, die auf 737 datiert ist. Die nächste liegt bei 808, und ab 846 ist kein Mangel mehr an Inschriften - 15 bis zur Jahrhundertwende und Dutzende im 10. und 11. Jh. (bis 1103). Die meisten stammen aus der Kathedrale und aus der Umgebung von Oviedo [Hübner 1871]. Die auf ihnen vorkommenden Königsnamen lassen sich mit den schriftlich überlieferten in Einklang bringen. Das Schweigen im 8. Jh. ist verständlich, wenn man bedenkt, daß das Gotenreich de facto aufgehört hatte zu existieren und nur Asturien im äußersten Norden Spaniens mit der Hauptstadt Oviedo rein christlich geblieben war.

Schwerer ist das fast völlige Fehlen von arabischen Inschriften des 8. und 9. Jhs. zu erklären. Die etwa 150 vorhandenen, stets datierten Inschriften verteilen sich auf das 10. bis 15. Jh., der Zeitraum ab 300 H. =911 A.D. ist recht gut belegt. Davor gibt es nur die Inschrift an der Moschee von Córdoba, die das Jahr 244 oder 242 H. (= 856 A.D.) trägt, einen Stein in Sevilla, auf dem man immerhin noch das Jahr 200 lesen kann und der somit irgendwo ins 9. Jh. zu plazieren ist, sowie eine gut erhaltene Gründungsinschrift an der Burg von Merida, die den Herrscher Abderrahman ben Hakam, zwei Architekten und das Jahr 220 H. (= 835 A.D.) angibt [Levi-Provencal 1931].
2. Arabische Münzen  

Besser belegt ist diese Zeit durch die arabischen Münzen. Die frühesten islamischen Münzen in Nordafrika und Spanien tragen noch rein lateinische Inschriften, die (in lateinischer Sprache) islamische Formeln wiedergeben, dazu die Jahresangaben (in lateinischen Lettern) 95-97, manchmal außerdem das Indiktionsjahr. Ab 97 treten bilinguische Münzen auf, die in arabischer Sprache und Schrift das islamische Glaubensbekenntnis tragen. Das Jahr ist römisch und arabisch, im letzteren Falle durch voll ausgeschriebene Worte angegeben. Ab dem Jahre 102 sind alle Münzen rein arabisch, geben nie den Herrscher, immer aber das Jahr und als Ort "Al-Andalus", also Andalusien (Spanien) an. Wir kennen Münzen aus praktisch allen Jahrzehnten zwischen 102 und 285.
Wenn wir die Hidschra-Rechnung zugrundelegen, ergibt das die Jahre 721 - 899 A.D. Ab 316 H. = 928 A.D. erscheint der Name des Kalifen Abderrahman auf den Münzen, als Ort wird immer noch Al-Andalus, ab 336 H. = 947 A.D. jedoch Medina Zahara (das islamische 'Versailles' bei Córdoba, 941 Moscheeweihung belegt) und ab 380 H. = 977 A.D. wieder Al-Andalus genannt. Die jetzt immer angegebenen Herrscher decken sich genau mit den schriftlich überlieferten. Die fortlaufende Datierung - bei geringer stilistischer Entwicklung - wird erst 546 H., in manchen Provinzen erst 553 H., also Mitte des 12. Jhs. durch die Almohaden unterbrochen. Diese prägen viereckige Münzen stets ohne Datum.
Nach einem knappen Jahrhundert kommen in Granada die Nasriden an die Macht, und wir finden wieder datierte Kupfermünzen, die bis ins 9. Jh. der Hidschra, d.h. bis ins 15. christliche Jh. durchlaufen [Codera y Zaidin 1879].

Es ist nicht von der Hand zu weisen, daß die stilistisch einheitlichen vor-almohadischen Münzen eine Zeitspanne von 450 Jahren abdecken. Da wir schon mit den Almoraviden, deren Herrscher auf den Münzen eindeutig erschienen, das 12. Jh. und damit sicheren Boden erreichen, und das Almohadenreich ohnedies unmöglich nach oben verschoben werden kann, bleibt der zwingende Schluß, daß der Beginn dieser Zeitspanne mit dem Anfang des 8. Jhs. übereinstimmen muß und damit zeitlich genau zusammenfällt mit dem Ende der durch die gotischen Inschriften belegten Zeitspanne.

Die Idee, daß es im 10. und 11. Jh. zwei verschiedene, auf Münzen verwendete Zeitrechnungen gegeben habe, die um 200 Jahre differierten, ist völlig abwegig, zumal auf beiden 'Münzsorten', die zudem gleichen Goldwert haben, derselbe Ort, "Al-Andalus", angegeben ist.

Anmerkung: Diese Argumentation ist bisher nicht widerlegt worden. Obwohl einige Schwachstellen und Lücken deutlich erkennbar sind, steht eine umfassende Untersuchung der arabischen Münzen noch aus.

Abgesehen davon ist die islamische Eroberung Spaniens relativ gut überliefert, und zwar durch arabische Schriftsteller, deren frühester Vertreter allerdings sehr spät, nämlich mit 851 A.D. angesetzt wird, wobei wir ohnedies nur Kopien des 13. Jhs. besitzen, die aber als glaubwürdig gelten.

Arabische Quellen verwenden auch die christlichen und mozarabischen Historiker, deren lateinisch geschriebene Werke nach ERA und zugleich nach "arabischem Jahr", also wohl nach Hidschra datieren, wobei allerdings Irrtümer bis zu einem Jahrzehnt vorkommen. (Hierzu sei erwähnt, daß bei der Datierung mittels römischer Lettern Schreibfehler sich tatsächlich kaum vermeiden lassen!)

Anmerkung: Nach Lektüre von Olagüe revidiert der Autor seine Ansicht: die ersten Jahrhunderte der islamischen Präsenz in Spanien sind auf arabischer Seite so gut wie gar nicht schriftlich belegt.

Diese christlichen Chroniken stammen aus dem 8. und 9. Jh. und sind entsprechend datiert. Eine Fälschung gilt bislang als ausgeschlossen. Dasselbe gilt für mehrere Isidor-Handschriften, die paläographisch keinesfalls erst dem 10. Jh. angehören können. Ein Kodex trägt den Vermerk, daß er im Jahre 882 in der Bibliothek eingeordnet worden sei. In demselben findet sich eine Sonnenfinsternisbeobachtung, die auf die Stunde genau zutreffend auf den 16. August 779 datiert ist. Eine danebenstehende Angabe müßte allerdings grob verschrieben sein und bleibt selbst dann noch fraglich [Diaz y Diaz 1983].

Übrigens läßt sich bei Annahme der 300-Jahres-Lücke die islamische Mission, Eroberung, Konsolidierung und Unabhängigkeitserklärung Spaniens kaum in den zwei Jahrzehnten zwischen 911 und 936 (Gründung von Medina Zahara) unterbringen, wozu auch noch postuliert werden müßte, daß Kultur und Architektur in Spanien unmittelbar nach der Zerschlagung des Gotenreiches einen ungeahnten Aufschwung nahmen, hervorgerufen durch eine Handvoll Araber und größere Truppen Berber aus dem benachbarten Marokko, die vermutlich Analphabeten waren. Ein Niedergang und eine fast Stadt- und schriftlose Zeit sind in einem solchen Falle wahrscheinlicher, obwohl die militärische Eroberung vermutlich neben der islamischen Mission nur eine untergeordnete, später aufgebauschte Rolle spielte.

Wie die lateinisch beschrifteten Münzen belegen, gab es anfangs Islam auch ohne Arabisch. Desgleichen sind Grenzstreitigkeiten zwischen dem islamischen Spanien und den christlichen Vasallenfürsten am äußersten Nordrand, die erst um 1200 beginnen, eigenen Münzen zu prägen, und zwar arabisch beschriftete und mit era datierte, erst spät zu einer 'Reconquista' aufgewertet worden.
Nachdem Spanien einen 300-Jahres-Sprung mit Sicherheit ausschließt - schon die gotischen Inschriften würden, wenn überhaupt, nur 150 Jahre zulassen - wenden wir uns Nordafrika zu.

3. Koptische Quellen  

In Marokko sind außer Münzen wenig handfeste Dokumente zu finden, für die angrenzenden Länder gilt dasselbe. Erst in Ägypten treffen wir auf alte schriftliche Dokumente: die der Kopten.
Die koptischen Urkunden und Verträge sind selten datiert, sie tragen meist nur Indiktionsjahr-Angaben. Datierte Bibelmanuskripte soll es allerdings aus den Jahren 848 bis 1205 recht häufig geben, auch später noch bis ins 19. Jh. und sogar ein älteres: von 586, dem undatierte aus dem 5./6. Jh. zur Seite stehen [Cramer 1964]. Die Urkunden von Djeme bei Theben sind allerdings manchmal datiert, und zwar nach der Märtyrerära (= Diokletiansära) oder der "Sarazenenära".

Die letztere Angabe muß sich auf die Hidschra beziehen, wie durch eine Doppeldatierung "Märtyrerära 451 -Sarazenenjahr 114" (= 735 A.D.) belegt wird. Das älteste Dokument ist durch die Angabe "23. und 24. Jahr Herakleion des Jüngeren" auf 664/5 datiert, andere Dokumente sind durch Märtyrerära in die Jahre 750, 756 und 757 A.D. datiert. Das erste hat dazu die Angabe: Sarazenenjahr 132; außerdem gibt es zwei Urkunden, datiert auf Sarazenenjahr 164 (= 770 A.D.) und eine mit der arabischen Angabe "hundert...undsechzig", die aus den 60er oder 70er Jahren des 8. christl. Jhs. stammen muß. Andere Dokumente tragen zwar auch arabische Formeln und Daten, doch sind diese zu schlecht erhalten. Da aber die Diokletiansära bekannt war und eine Fälschungsabsicht unwahrscheinlich ist (die griechisch geschriebenen Jahresangaben sind in den Text integriert), sind diese Angaben als wichtig aufzufassen [Crum 1912]. Anmerkung: Die schlechte Erhaltung gerade der arabischen Schriftzüge mit Datum in sonst recht gut lesbaren Dokumenten ist allerdings verdächtig und fordert eine genauere Untersuchung.
4. Äthiopien  

Ein für unsere Zwecke sehr interessantes Land ist Äthiopien. Durch die Christianisierung im 5. Jh. ist eine eindeutige Basis gegeben, während der die christlich-mittelmeerische Kultur mit der äthiopischen korreliert war. Durch die spätere Isolation müßte eine um 300 Jahre verschobene Ära sich hier erhalten haben.
Es gibt in Äthiopien keine durchlaufende Geschichte. Von heute rückwärts rechnend ist der früheste eindeutig datierbare König Yekuno Amlak, der Ende des 13. Jhs. regierte. Die ältesten Chroniken sind etwa 150 Jahre jünger. Es gibt allerdings zahlreiche Manuskripte, die aufgrund biblischer Generationenfolge die wichtigsten Ereignisse seit Adam datieren. Dabei werden vier verschiedene Ären verwendet.

Die wichtigste ist die Welterschaffungsära, die als Epoche 5500 v. Chr. hat. Dazu tritt die Diokletiansära (Märtyrerära) mit der Epoche 29.8.284; über sie wird eine Verbindung mit der heutigen Zeitrechnung hergestellt, wonach die Geburt Jesu für die Äthiopier im Jahre 7/8 A.D. lag. Auch sie ist Ausgangspunkt einer Ära. Die vierte ist die Gnadenära, die 76 Jahre vor Diokletian beginnt (208), aber oft mit dessen Ära zusammengeworfen wird. Überhaupt sind Schwankungen von ca. 20 Jahren nicht ungewöhnlich.
Nach der Geburt Jesu werden noch datiert: das Konzil von Nicäa (325), das von Konstantinopel (381), die Christianisierung und der König Gabra Masqal, der 94 Jahre nach dem nicäanischen Konzil gelebt haben soll, also Anfang des 5. Jhs.

In etlichen Manuskripten ist der Abstand zwischen Gabra und Yekuno mit ca. 830 Jahren fixiert, d.h. entsprechend konventioneller Geschichtsschreibung. Demgegenüber beträgt sein Abstand zu Yekuno Amlak in einigen Manuskripten 370 Jahre, das heißt, Yekuno Amlak wird um 465 Jahre herunterdatiert und auf etwa 800 A.D. gelegt. In anderen Werken wird stattdessen Gabra Masqal um dieselbe Spanne nach oben verschoben und liegt dann am Ende des 9. Jhs., womit eine sehr große Lücke zwischen dem Konzil von Nicäa und Gabra aufreißt. Ganz offensichtlich haben wir hier einen Zeitsprung von etwa viereinhalb Jahrhunderten vor uns. Merkwürdig exakt ist das einzige dazwischenliegende Datum: Ausbreitung des Islam im Jahre 6114 der Welt-Ära bzw. 614 nach der Geburt Jesu, als 622 A.D.

Ein Grund für diese Verschiebung ist bislang nicht bekannt. Otto Neugebauer [1989, dem alle diese Angaben entnommen sind] spekuliert, es sei vielleicht ein Osterzyklus von 532 Jahren, der in Äthiopien die Grundlage aller dieser Berechnungen bildete, irrtümlich gestrichen worden, und dann noch eine der sehr häufigen Verwechslungen der Diokletians- mit der Gnadenära unterlaufen, was (532 - 76 = 456) genau dem Sprung von 456 Jahren entspricht.

Ein solcher Sprung sei nicht bemerkt oder sogar gebilligt worden, um die lange Zeit zwischen Christianisierung und Yekuno Amlak, während der Äthiopien auf eine sehr niedrige Kulturstufe zurückgesunken war, zu vertuschen und einen zeitlich direkteren Anschluß an die – übrigens auch nur dürftig dokumentierte - Blütezeit des 4. bis 6. Jhs. zu gewinnen. Es sei auch möglich, daß eine Verwechslung der allgemein üblichen Panodorus-Weltära (ab -5500) mit der um 528 in Byzanz belegten Malales-Weltära vorgefallen sei. Die letztere beginnt 476 vor der ersten [Ginzel 1924; Neugebauer gibt 456 Jahre an].

Obwohl dieser Sprung auf den ersten Blick Illigs These zu stützen scheint, ist er nicht als direktes Argument zu werten. Die geschichtlich 'leere' Zeit, aus der keine sicheren Anhaltspunkte vorliegen, beträgt in Äthiopien nämlich volle 600 Jahre. Ein Sprung von sechs oder auch nur viereinhalb Jahrhunderten aber ist in Europa völlig undenkbar. Wir müssen also akzeptieren, daß Äthiopien nach der Christianisierung wieder in eine fast kulturlose Stufe zurücksank, die Kontinuität der Geschichte jedenfalls nicht gewährleistet ist.

Diese Epoche noch künstlich zu verlängern kann aber den äthiopischen Geschichtsschreibern kein Bedürfnis gewesen sein, nur eine Verkürzung wäre verständlich. Wenn sie aber die Schaltung zwecks einer Koordinierung mit den mittelmeerischen Zeitrechnungen vornahmen, müßte der Sprung 300 Jahre betragen, jedenfalls die in Europa anwendbare Zahl. Anders gesagt: Aus den ziemlich verworrenen Rechnungen der Äthiopier, bei denen man Kontinuität und durchlaufendes Geschichtsbewußtsein keinesfalls antreffen kann, ist ein ernsthaftes Argument zugunsten Illigs These momentan nicht ableitbar.
Anmerkung: Heute würde der Autor diese Beobachtung als Beweis einer chronologischen Verschiebung werten, die zwar nicht 300 Jahre betragen haben dürfte, aber doch unsere konventionelle Chronologie der Fälschung überführt.
5. Islamischer Osten  

Unsere Aufmerksamkeit hat sich nun auf die kulturelle Metropole des Ostens zu richten: Damaskus und später Baghdad. Wie gut ist das frühe Mittelalter hier belegt?
Das Sassanidenreich ist wohl über die römischen und byzantinischen Quellen eindeutig zeitlich fixiert. Chosrau II. war in Kriege mit Kaiser Heraklios verwickelt und starb 628. Aus persischen Quellen wissen wir von mehreren Usurpatoren und dem letzten Sassanidenherrscher Yezdegird III., die auch alle über Münzen belegt sind. Die stilistischen Unterschiede sind dabei deutlich genug, so daß es nicht möglich ist, die Münzen dieses letzten Königs seinen Vor- oder Doppelgängern Yezdegird I. oder II. zuzuordnen.
Das 20. und letzte Regierungsjahr Yezdegirds III. fällt somit auf 651 A.D. Dieses Todesjahr ist auch Ausgangspunkt für eine Zeitrechnung geworden, so daß wir zur Zeit der arabischen Eroberung oder Mission mit drei Ären zu tun haben: die Yezdegird-Ära (ab 632), die Post-Yezdegird-Ära (ab 651) und die Hidschra (ab 622). Da sich die verschiedenen Rechnungen nur um 20 bzw. 30 Jahre unterscheiden und nicht um 300, bleiben Verwechslungen für uns momentan ohne Belang.

Die auf Münzen in Tabaristan verwendete Ära läuft, bei eindeutig sassanidischem Stil und auch anderweitig für diese Zeit und Region überlieferten persischen Königsnamen, bis zum Jahre 114, das entspräche 745 A.D. oder, in Übereinstimmung mit arabischen Quellen zur Eroberung Tabaristans, 765 A.D. [Mitchiner 1978]. p> Sicherer noch sind die arabischen Münzen: Anfangs gleichen sie den sassanidischen - oder auch den byzantinischen, in den entsprechenden Gebieten - vollkommen, fügen nur in Pehlevi-Schrift den Namen eines arabischen Gouverneurs hinzu. Nach einigen bilinguischen Münzen, auf denen dieser Name arabisch geschrieben wird, treten zugleich mit der Jahresangabe 77 (was als Hidschra-Datum gewertet wird und 697 A.D. entspricht) rein arabische Münzen auf. Ohne Herrscherangabe, nur mit religiösen Formeln, Ort und Datum versehen laufen diese Münzen praktisch lückenlos bis ins Jahr 170 H. (= 785 A.D.) durch, wo erstmals Herrschernamen auftreten, oft auch nur Titel oder Thronnamen. Der Stil gleicht übrigens anfangs vollkommen dem der oben erwähnten hispano-arabischen Münzen.

Die Datierung hat auch später keine Lücke; die Seldschuken unter Tughril Bek ändern 422 H. = 1042 A.D. zwar das Münzbild, übernehmen aber die Zeitrechnung, die bis zum heutigen Tage ohne irgendeine Unterbrechung fortläuft [Lane-Poole 1875]. Da bis in jüngere Zeit die Jahresangaben immer voll in Worten ausgeschrieben wurden, sind Fehllesungen so gut wie ausgeschlossen. Wir stehen also vor einer 1.300 Jahre währenden Münztradition, die in diesem Jahrhundert eindeutig mit der christlichen Ära zu korrelieren ist und so mit ihrem Anfang bis ins 7. Jh. reichen muß.

Auch hier sind zwei nebeneinander gebräuchliche Zeitrechnungen auf gleichartigen Münzen, oder erst recht auf stilistisch eindeutig früheren und späteren Münzen für die geschichtlich dokumentierte Zeit mit Sicherheit auszuschließen. Diese Parallelität hätte aber bei Zugrundelegen des 300- Jahres-Sprungs von 77 H bis 300 H, also 230 Jahre lang, d.h. von 911 bis 1140 dauern müssen - eine faktische Unmöglichkeit. Ein Beginn der islamischen Münzen im 4. Jh. ist ebenfalls unmöglich, was in Spanien besonders deutlich wird.

Anmerkung:
Der Autor hat bei späteren Untersuchungen feststellen können, daß die Münzen zwar durchlaufen, aber im Katalog für spätere Jahrhunderte auffallend wenig Stücke vorhanden sind. Eine Untersuchung ist im Gange.

Während wir im islamischen Spanien kaum drei Inschriften der fraglichen Zeit finden konnten, sind Arabien, Ägypten und Syrien reichlich mit eindeutig datierten Grabsteinen und Bauinschriften versehen. Bis zum Jahre 746 kennen wir etwa 40 datierte Inschriften, danach steigt die Zahl rasch an. Für das 2. Jh. der Hidschra gibt es allein in Ägypten Dutzende, für das 3. Jh. über hundert datierte Grabsteine, außerdem - eigenartigerweise stets datierte - Inschriften auf Keramik- und Bronzegegenständen. Durch religiöse Formeln sind alle diese als eindeutig islamisch ausgewiesen. Zwar wird niemals und nirgendwo das Wort Hidschra zugefügt, aber aus paläographischen und anderen Gründen - z.B. sind Herrscher erwähnt [Grohmann 1971] - ist es unmöglich, diese Dokumente ins 10. Jh. zu verlegen.

Außer steinernen gibt es auch papierene, genauer gesagt Papyri-Zeugnisse. In Ägypten haben sich zweisprachige Urkunden in Griechisch/Arabisch und rein arabische Geschäftsbriefe erhalten, deren Datierungen nicht angezweifelt werden können. Sie gehören - auch dem Schriftduktus nach - dem l. und 2. Jh. der Hidschra an [Grohmann 1924].

6. Folgerung  

Wir sehen also: Ein Zeitsprung von 300 Jahren ist in keinem der behandelten Gebiete zulässig. In Spanien könnte ein Sprung aufgrund der ERA-datierten Inschriften etwa 150, bestenfalls 200 Jahre betragen, in Äthiopien müßte man 450 oder gar 600 Jahre annehmen und bei den Arabern ist jede Art von Zeitsprung praktisch ausgeschlossen, wenn wir nicht Hunderte von Inschriften und Tausende von Münzen als Falsifikate erklären wollen.

Die von M. Zeller [1993] vorgeschlagene Annahme von zwei verschiedenen Ären stößt auf die Argumente der Paläographie und auf die Tatsache, daß weder in Chroniken noch in Inschriften sich ein Hinweis auf derart differierende Zeitrechnungen finden läßt. In der arabischen Geschichte einen Sprung unterzubringen, entspricht einem völlig willkürlichen Herumschieben von Fakten, Daten und Monumenten, bis sich auf irgendeine Weise die gewünschte Jahreszahl ergibt. So aber werden wir denTatsachen nicht gerecht.

Abschließend eine Bemerkung zum katastrophistischen Weltbild. Dieses beinhaltet, daß Entwicklung eben nicht kontinuierlich, sondern sprunghaft verläuft, Unterbrechungen, Rückschritte und Renaissancen an der Tagesordnung sind. Der vielleicht weltweit, jedenfalls im gesamten mittelmeerischen Kulturbereich - und dazu gehört auch Zentraleuropa -nachzuweisende Rückfall auf eine weniger hohe Kulturstufe könnte eventuell auch mit einem kosmischen Ereignis zusammenhängen, etwa einem Kometeneinschlag. Jedenfalls widerspricht das Postulat, Geschichte müsse auch im Mittelalter geradlinig, anscheinend viel geradliniger noch als heute, abgelaufen sein, allzusehr der Idee von immer wieder hereinbrechenden Katastrophen. Als 'Nebenprodukt' der Mittelalterforschungen, die sich bemühen, Heinsohns Verkürzungsmodell auf mittelalterliche Zeiträume anzuwenden und damit seine Voraussetzungen, nämlich den Historikerirrtum, drastisch verändern, ergibt sich allerdings, daß unser heute in den Schulen gelehrtes Geschichtsbild ziemlich stark, wenn auch nicht im chronologischen Sinne, von der Realität abweicht. Sowohl die Frankengeschichte als auch die der islamischen Ausbreitung - fälschlicherweise immer noch als Eroberung deklariert -, als auch die Entstehung der slawischen Sprachen etc. etc. müssen einer gründlichen Revision unterzogen werden.


Literatur:

Barral, X. (1976): La circulation des monnaies suebes et visigothiques; München
Beltran Villagrasa, P. (1972): Numismática de la Edad Media; Zaragoza
Codera y Zaidin, F. (1879): Tratado de Numismática arábigo-española; Madrid
Cramer, M. (1964): Koptische Buchmalerei; Recklinghausen
Crum, W. (1912): Koptische Rechtsurkunden des 8. Jh.; Leipzig
Diaz y Diaz, M. (1976): De Isidoro al sigio XI; Barcelona -
(1983): Códigos visigóticos de la monarquía leonesa; León
Enciclopedia Espasa-Calpe (1911), Madrid
Gaube, H. (1973): Arabosassanidische Numismatik; Braunschweig
Ginzel, P.K. (1924): Handbuch der mathematischen und technischen Chronologie; Leipzig
Grohmann, A. (1924): Allgemeine Einführung in die arabischen Papyri; Wien - (197l): Arabische Paläographie; Wien
Harkavy, A. (1875): Catalog der hebräischen Bibelhandschriften; St. Petersburg
Hübner, E. (187l): Inscriptiones hispaniae christianae; Berlin
Illig, H. (199l): "Die christliche Zeitrechnung ist zu lang"; in VFG III (1) 4
Isidor von Sevillla (1862): Opera omnia; Paris (Hg. Arevalo)
Lane-Poole, S. (1875): Catalogue of Oriental Coins in the British Museum; London
Levi-Provencal, E. (193l): Inscriptions arabes d'Espagne; Leiden
Mitchiner, M. (1978): Oriental Coins and their values; London
Moritz, B. (1905): Arabic Palaeography; Kairo
Neugebauer, 0. (1989): Chronography in Ethiopic Sources; Wien
Niemitz, H.-U. (1993): "Fälschungen im Mittelalter"; in VFG III (l) 21
Satzinger, H. (1967): Koptische Urkunden; Berlin
Vives, J. (194l): Inscripciones cristianas de la Espana romana y visigoda; Barcelona -
(1963): Concilios visigóticos e hispanoromanos; Barcelona
Zeller, M. (1993): "Das Kalifat der Omaijaden"; in VFG V (3-4) 69


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