utos Kurzgeschichten (noch nicht fertige Seite)

Sie sind noch nicht gedruckt - die Kurzgeschichten zur Wiedergeburt.

ich frage: teile ich das feuer, indem ich einen brand abnehme und ein neues feuer anfache?
sind zwillinge nur geteilte leben, halbe personen?
gewiß nicht.
und eine wiedergeburt ist keine wiederholung und keine teilung, sondern eine neue geburt.

Kurzgeschichten schrieb ich schon als Schüler, sie sind längst verschollen. Dann als reisender junger Mann – sie müßten in verschiedenen Fahrtenbüchern noch aufzustöbern sein, die Suche danach lohnt sich - hier ist eine aufgetaucht:

Mein Sperberlied

Es kann schwierig werden, wenn man als Sperber herumfliegt, wie ein Stein auf sein Ziel zustößt, im Sturzflug sich kurz überm Boden abfängt mit den breiten Stoßfedern, gelernt ist gelernt, das tut man nicht mehr mit Nachdenken. Schwierig, wenn man beides ist: ein Sperber und ein plumper Mensch. Die Trennung der beiden Bewußtseinsebenen ist wichtiger zum Überleben als die mystische Einsicht in die Einheit des Lebens.
Früher habe ich ihn manchmal aufgerufen, meinen Lebensvogel. Ich stellte mich auf einen Hügel in der weiten Ebene der Kornfelder oder auf einen Steinturm am Rande eines Waldes oder auf einen Felsen über dem Flußtal und breitete die Arme aus. Dann kam er an, kreiste über mir und rüttelte eine Weile.
Ich hab ihn gerufen in Not und in Freude.

In Marrakesch erzählen sie eine feinsinnige Sperbergeschichte:

Der heiligste Punkt in dieser Stadt, der Stadt der sieben heiligen Männer – im Volksmund heißt die Stadt oft nur „Sieben-Männer“ – der heiligste in diesem Gitter heiliger Gräber, ist die kleine weiße Kuppel neben der Kutubia, dem Minarett, das als einziger Bauteil der großen Moschee noch steht, neben dem weltberühmten Platz, der oft nur „der Platz“ genannt wird, neben der „Residenz“, wie das französische Konsulat traditionell manchmal noch heißt, also mitten im Zentrum des Südens dieses seltsamen Königreichs. Dieser kleine weiße Kuppelbau ist der Ursprung allen Lebens in dieser überquellenden Stadt, ist das Herz von Marokko, dem die Stadt ihren Namen gab. Es ist der Seelenteich, die Mutter aller Kinder: Lalla Zohra bint el Kusch, das heißt Prinzessin Zohra Tochter des Falkenkönigs. A-Zohra ist der Beizvogel, der Habicht oder Sperber oder Falke, der Vogel der Sonne, und ihr Vater heißt auch Hor, der Horusfalke.
Zohra gebärt alle Menschen in dieser Stadt, sie ist die Erzeugerin, ohne sie gäbe es kein Leben hier, sagen die Marrakschis. Auf dem Platz kann man ihre Sage hören, wenn einer im Kreise der Herbeigeströmten mit dem ewigen Lied beginnt. Sage oder Geschichte – wer weiß das schon. Sie starb 1612, aber sie liegt nicht unter dieser kleinen weißen Kuppel an der Straße, die selbst in heißen Nächten noch von Autos und Kutschen, Rädern und Fußtritten hallt. Die Kuppel steht nur an einem der Orte, an dem sie in ihrem Leben verweilte, eine Zelle, wie man sagt.
Zohra war die Tochter des mächtigen Königs Kusch, Herrn der Falken und Meister einer mystischen Bruderschaft von Kämpfern und Eingeweihten. Als Zohra starb, flog sie als Falke davon, darum hat sie kein Grabmal. Als Vogel lebt sie ewig und schützt ihr Land und ihre Stadt. Ohne sie wären die Frauen unfruchtbar. Zohra gibt das Leben, sie ist der Gegner der Stute der Friedhöfe, die von den Marrakschis als Verkörperung des Todes gefürchtet wird.
Woher hat Zohra die Lebenskraft? Aus ihrem eigenen Leben, Prinzessin die sie war, Eingeweihte und Kriegerin. Ihr Vater Kusch oder Hor hatte sie selbst erzogen mit aller Strenge wie einen Sohn, denn sie war sein einziges Kind. Die Mutter war bei der Geburt Zohras gestorben.
Lalla Zohra war schön wie ein Jüngling, stark und klug, behende und ehrlich, keusch und mitleidig, sogar mit Tieren. Als der Schwarze König von Meknes sie zur Ehe begehrte, weil er soviel Gutes über sie gehört hatte, bat sie um Aufschub und verschwand. Auf Märkten und Festen tauchte sie immer wieder auf, und der König ließ sie überall suchen, sobald ihm zugetragen wurde: Lalla Zohra ist wieder gesehen worden, als Heilerin und Schicksalskünderin auf der Wallfahrt zum Heiligen Reisenden am wilden Fluß oder zu den Zwillingsherren in der Grotte am Meer oder zum Verrückten, je nach der Jahreszeit. Aber nach einiger Zeit mußte er die Suche aufgeben, denn Zohra war überall zugleich und doch nicht zu greifen. Da wußte er, daß sie eine Dschinniya sein müßte.
Er fürchtete sie nun, und aus Scham oder Rachsucht ließ er ihr Heimatdorf verwüsten. Da stellte sie sich an die Spitze einer Kämpferschar und zog gegen die schwarzen Soldaten des Schwarzen Königs, wurde aber geschlagen und floh. Wenn der Sänger oder die Erzählerin auf dem Platz an diese Stelle in der Sage gekommen ist, geht ein Aufschrei durch die Runde der Zuhörer, viele rufen Gott an um Hilfe und einige verwünschen den Schwarzen König.
Zohra flog überall hin, wo Menschen in Not waren, viele Wunder werden von ihr berichtet. Ich will sie nicht aufzählen, sie gehören dem armen Volk. Eingeweihte achten nicht darauf, denn das größte Wunder Zohras war ihr Leben, ihre Selbstlosigkeit. So wurde sie zur Lebensspenderin.

Wenn Frauen in dieser Stadt um Kinder bitten und keine bekommen, nehmen sie keine Mittelchen ein, gehen auch nicht fremd oder fragen den Arzt. Sie gehen zuerst zu Lalla Zohra, denn von dort kommen die Kinder, wie aus einem riesigen Teich. Lalla Zohra hütet sie und verteilt sie freimütig, das ist ihre Art. Eine Kerze oder ein Zuckerhut reicht ihr, der gute Wille ist schon genug. Wenn sie nicht eine Seele spendet, dann gibt es keine Hilfe, denn sie hat alle Seelen in ihrer Hut. Alle Bitten sind ihr zugewandt, alle Dankeslieder auch. Zohra, die Prinzessin aus dem Volk, keine Göttin und keine Fee, nur eine Frau, die gut war.

Die anderen Kurzgeschichten folgen bald, sie sind ganz anders.
Als ich zur Wende erstmals wieder nach Deutschland kam, änderte sich mein Schreibstil, der zwei Jahrzehnte wie eingefroren war, rasant: Da ich nun überall wieder Deutsch hörte und las, und ein Deutsch, das sich gehörig gewandelt hatte, brach manche Verkrustung in mir auf. Ich schrieb befreit von den Zwängen der auf Nachrichtenübermittlung abgestimmten Verkehrssprache wieder eine lebendige Umgangssprache. Die Kurzgeschichten, die ich hier ausgewählt habe, drehen sich nicht alle um dasselbe Thema – das der Wiedergeburt – aber doch die Mehrzahl. Darum habe ich den Untertitel in diesem Sinne angehängt: Geschichten zur Wiedergeburt.

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