Eine neue Richtung in der Chronologieforschung
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Berlin · 2012  Uwe Topper topper

Mit einem 30-seitigen Aufsatz „Verdoppelte Phantomzeit?“ wehrt sich Heribert Illig in seiner Zeitschrift „Zeitensprünge“ (Heft 3/11, S. 651-680) entschieden gegen den Vorstoß seines bisherigen Mitherausgebers, Gunnar Heinsohn, der die sogenannte Phantomzeit von 297 auf rund 600 Jahre verdoppelt hat. Meine Untersuchung der Arbeitsweise der beiden Pioniere und ihrer Argumente greift weit aus:

Nach scharfen Rügen einzelner Absurditäten und spielerisch vorgetragenen neuen Gedanken zur Vor- und Frühgeschichte (in der Nachfolge von Velikovsky u.a.) holte Illig 1991 zu einem konkreten Schlag ins Gesicht der Mittelalterwissenschaftler aus: Es gab da eine Lücke von mehreren Jahrhunderten, die keinen festen Boden finden ließen. Die Strategie war einfach: Dort, wo das Historikergewebe große Löcher aufweist oder zumindest weniger dicht gearbeitet ist, konnte der Angriff erfolgen. Die Geschichte des Römischen Reiches erschien viel zu fest gefügt, als daß eine Kritik möglich wäre

Die Geschichte des Römischen Reiches etwa, die seit der Renaissance mit größtem Aufwand „wieder“hergestellt worden war, erschien viel zu fest gefügt, als daß eine Kritik, die mehr als Einzelheiten betraf, möglich wäre. Illig ließ sie insgesamt stehen und verteidigt sie auch heute noch, jetzt gegen Heinsohn. Man muß den Gegner an der schwächsten Stelle greifen, nicht dort, wo er gut gepanzert auftritt, ist Illigs Strategie. Das besagt leider auch, daß ihm offensichtlich ein echtes Konzept fehlte, daß es ihm mithin nur um den Streit selbst ging, das Aufsehen, das er daraus ableiten konnte, und die Schnelligkeit, mit der er dem Gegner Wunden zufügen konnte. All das ist ihm gelungen. Wer gedacht hatte, daß sich das Konzept dabei selbst formulieren würde, war bald enttäuscht.

Die Schwachstelle, die Illig im Gefüge der Mittelalterchronologie gefunden hatte, betraf aber genaugenommen nicht eine echte Lücke in festem Mauerwerk, sondern nur einen Mangel an Kenntnissen und Vorarbeit seitens der Akademiker. Man hatte hier – anders als bei den minutiösen Arbeiten zum Römischen Reich oder sogar des alten Orients – etwas lässiger geforscht und noch mehr fantasiert. Das ließ sich mit Leidenschaft hervorkehren und den Zuständigen an den Kopf werfen. Die kannten ihre Schwächen auch selbst recht gut und hatten sich nicht einmal gescheut, das vor aller Welt darzustellen, einerseits aus wissenschaftlicher Redlichkeit, andererseits als Anregung für zukünftige Arbeit. Bis dieser Störenfried kam und ihnen ihre Fehler vorhielt. Da bildeten sie plötzlich eine feste Phalanx, so als wären ihre Arbeitsergebnisse über jede Kritik erhaben. Der Stoß von Illig war ihnen peinlich, denn er verstieß gegen die Spielregeln, modern würde man sagen: er wurde als unfair empfunden, obgleich das die Mittelalterforschung zum Sport abgewertet hätte; sie war ernstgemeinte Geistesarbeit.

Unter den Akademikern (und besonders bei den Theologen) war man sofort zur Schadenseindämmung angetreten, zum Lawinenschutz, notdürftigem Flickwerk und was da in der Panik (!) alles herhalten mußte. Sogar alte, längst als Fälschung erkannte Machwerke wurden wieder aufgewertet. Vor allem wollte man den Eindruck herunterspielen, den dieser frivole Außenseiter auf das gebildete Publikum machen mußte, und darum waren die Verteidgungsschläge häufig jenseits des guten Tons oder auch mal grob ehrenrührig.

Illigs Stoß traf weil er die schwächsten Steine der ganzen Mauer herausriß

(Kaum hervorheben muß ich, aber doch kurz einfügen, daß Illig nicht allein kämpfte, sondern eine schon seit einem Jahrzehnt zusammengekommene Gruppe anführte, wobei er sich in der Öffentlichkeit als Chef darstellte, was ihm auch bei seinen Mitarbeitern nicht nur Sympathien eintrug. Ich rede hier aber weiterhin nur über Illig, zumal ich ja auch seinen obigen Aufsatz zum Anlaß nahm, diesen Abriß der Ereignisse zu bringen).

Erstaunlich: Illigs Stoß traf tatsächlich und brachte das ganze Gebäude der Historikerarbeit zum Einsturz. Er traf, weil er die schwächsten Steine der ganzen Mauer herausriß, der Rest stürzte nach. Gewiß nicht sofort, aber doch absehbar in der kommenden Generation: ‚So sicher war unser Haus ja nicht gewesen, so ernst war es uns mit den Jahreszahlen gar nicht, das waren doch nur Vorschläge, darüber kann man reden!‘ Wer das heute schmunzelnd liest – vor allem die Jüngeren – kann sich nicht mehr vorstellen, wie verbissen früher unter den Historikern (noch im ausgehenden 20. Jahrhundert) über einzelne Jahre und sogar Tage gestritten wurde, auch wenn sie tausend Jahre zurücklagen.

Nachdem die Lücke im Mittelalter offensichtlich geworden war, hätte eine systematische Untersuchung der gesamten Geschichtsschreibung stattfinden müssen, was Blöß, Niemitz, Topper u.a. mit Nachdruck forderten. Gerade das lehnte Illig ab. Paradigmenwechsel war nicht seine Sache, er kämpfte auf althergebrachtem Feld mit den anerkannten Waffen, zumindest fühlte er sich so und betonte es jederzeit.

Systematische Neuarbeit – das hieß: eine grundsätzliche Untersuchung über die Entstehung und Veränderung der wichtigsten historischen Vorbedingung, der Jahreszählung. Mit Anekdoten oder punktweisen Bloßstellungen bezüglich Scaliger oder Pettavius kam man da nicht voran. Alles mußte aufgerollt werden, was zur Chronologie-Erstellung gehörte. Dann hätte sich auch die so hart und doch unzureichend diskutierte Schwachstelle der Gregorianischen Kalenderreform klären lassen. Stattdessen ereiferten sich die Gegner an diesem Detail und vergaßen den Rest – die Frage nach der Herstellung unserer Jahreszählung insgesamt.

Und das hatte zur Folge, daß der engste Mitarbeiter von Illig, Gunnar Heinsohn, eines Tages ausscherte und eine doppelt so große Lücke aufriß. Auch eine dreifache Lücke würde das Gebäude nicht mehr retten, denn hier geht es gar nicht um Restaurieren einer Ruine sondern um Abriß und Neubau. Indem Heinsohn das nicht durchschaute, schuf er doppelten Schaden: seinem ehemaligen Vorarbeiter und auch der Akademie, die nun immer noch nicht aufwacht zur eigentlichen Arbeit. Daß gerade Heinsohn, der in vielen seiner geschichtskritischen Arbeiten mit strenger Methode vorgegangen war, nun eine solche Stückelei vorlegt, ist besonders bedauerlich. Hier geht es gar nicht um Restaurieren einer Ruine sondern um Abriß und Neubau

Illig geht sogar versuchsweise auf Heinsohns Argumente ein (Abschnitt Ia) und erwägt, ob ein 200-Jahressprung im Römischen Reich vertretbar wäre. Mit welchen Mitteln tut er das? Er stützt sich auf „allgemeines Wissen“, auf die Bibliotheken der Historiker, und versucht innerhalb ihrer eigenen Romane eine solche Lücke aufzubauen. Das mißlingt bestens, und damit hat er diesen Versuch widerlegt.

In Abschnitt Ib referiert Illig den neuen Ansatz von Heinsohn, 600 statt der bisherigen 297 Jahre werden gestrichen, wobei ihm das Argument, bis 900 AD seien kaum christliche Denkmäler vorhanden, Dienste leistet. Das ist Spiegelfechterei, wenn einerseits die Kirche diese Christen erfunden und die Jahreszahlen selbst dazu geliefert hat, und andererseits unklar bleibt, was als Christenheit zu gelten hat.

Auch der Katastrophismus, der einst Illigs Ausgangsbasis war, aber von ihm längst an den Rand gedrängt und sogar abgelehnt worden war, wird nun von ihm weiter bekämpft. Die von Heinsohn häufig angeführte „schwarze Schicht“ als Hinweis auf den Katastrophenhorizont, interpretiert Illig nun als handwerkliche Spezialität, nämlich „durchdachter Schutz gegen Setzrisse und Erdbeben“, ein Stoßdämpfer in zahlreichen Gebäudefundamenten Mitteleuropas. Einfallsreich.

Humorvoll, wie Illig immer war, bringt er ein Wortspiel: Der Ortsname „Fisch-am-End“ und Äquinoktium (= Ende des Tierkreiszeichens Fische), das ist ja derselbe. Oder Illig am End?

Außenstehende haben das in der Debatte zuerst festgestellt: Wenn Heinsohn Recht hat, und innerhalb der selbstgewählten Spielregeln sieht es ganz so aus, dann ist Illig erledigt. Eine Fantomzeit kann nur entweder 300 oder 600 Jahre im selben Zeitraum betragen. Es sei denn, das ganze Zahlengerüst wäre falsch, aber das sagt (noch) keiner von beiden. Solange sie sich mit denselben Argumenten streiten, ist für Zuschauer nur eins klar: Keiner von beiden kann richtig liegen, die Argumente greifen nicht mehr. Alles muß falsch sein.

Nebenbei gesagt: Die Argumente werden von beiden (und anderen ebenfalls, nicht nur Mitarbeitern) immer stärker aus dem Internet geholt, besonders aus „Wikipedia“, was nicht nur unzulässig ist (man müßte die Quelle nennen und prüfen, auf die sich der Wikipedia-Eintrag beruft), sondern auch mit Betrug einhergeht, wenn auch nicht gerade bei diesen beiden ehrenhaften Streitern: Man setzt einen Eintrag in die Wikipedia, der unwidersprochen bleibt (es gibt Tausende davon jeden Tag!), und zitiert diesen Eintrag später als Allgemeinwissen. Nachweise dazu wurden vielfach gezeigt. Eine Fantomzeit kann nur entweder 300 oder 600 Jahre im selben Zeitraum betragen

Die Erkenntnis, daß Illigs Entwurf einer chronologischen Lücke zu der Feststellung führte, daß die gesamte Chronologie untersuchensbedürftig ist, hätte unermeßliche Folgen gehabt. In diesem Sinne hätten alle (zumindest die jüngeren) Akademiker mitmachen können. Das Konzept lag auf dem Tisch (die Namen derer, die das seit fünfzehn Jahren lautstark fordern, sollen hier schamhaft verschwiegen bleiben), aber niemand nahm es auf. Stand zuviel auf dem Spiel?

Erkenntnis und Wahrheitsliebe – das höchste Gut!

Bei diesem Streit begriffen die allermeisten nicht, daß nicht die Kirche und auch nicht die Mittelalterforschung sondern die Chronologiearbeit insgesamt die Zielscheibe waren. Man fühlte sich angegriffen und unterwühlt, wo man hätte erkennen müssen, daß man angreifbar ist und auf hohlem Boden gründet. Das hätten alle Beteiligten, auch gerade die Gruppe um Heinsohn-Illig, selbst merken müssen, denn durch Velikovskys eigenbrötlerische Ägypten-Analyse war das Problem aufgedeckt worden, und die „Zeitenspringer“ beriefen sich – mit aller gebührenden Distanzierung – stolz auf diesen Uranstoß, Väterchen Velikovsky. An Ägyptens Jahren wurde (und wird noch heute) unentwegt gebastelt, man weiß unter Akademikern, wie brüchig diese Chronologie ist. Da sie vielfach als Maßstab für andere alte Reiche gilt, weiß man auch, daß das gesamte Altertum nur auf gutem Willen beruht oder eigentlich schwebt. Und das sollte den daran angehängten Überbau stützen?

Während man vorher noch mit den Jahrtausenden jonglierte, als wäre es Inflationsgeld, sind die Akademiker inzwischen vorsichtiger geworden (außer in Sachen Vorgeschichte: das Alter der Höhlenmalereien von Spanien ist gerade verdoppelt worden). Die Akademie hat eine Art Schulterschluß begonnen, sie wehrt sich gegen Außenseiter, die das luftige Gebäude einfach fortblasen. Sie müssen alle daran festhalten, es ist gar zu leicht.

Eins hat Illigs Stoß den Akademikern gebracht: eine Einigung, wie sie vorher undenkbar war. Früher war man durchaus offen für neue Entwürfe, war streitbereit und konnte vielfältige Hypothesen aufnehmen und wieder ablegen. Das scheint vorbei zu sein seit 1991. An den Zahlen darf nicht gerüttelt werden. Aus dem Tummelfeld offener Forschung ist eine geeinte Notgemeinschaft geworden, die ihre Tresore verteidigt. Und das sind die Jahreszahlen. Die halten sogar – von den einzelnen Änderungen abgesehen – beide Kontrahenten weiterhin hoch: Illig wie auch Heinsohn arbeiten mit den gelernten Mustern, nur so können sie sich bekriegen. Und damit erübrigt sich eine Betrachtung dieses Streites und des weiteren Aufsatzes von Illig.

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