Fomenko und die „Neue Chronologie“: eine seltsame Debatte innerhalb der russischen Geschichtsschreibung
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Mischa Gabowitsch (Paris) Juni 2000

Inhalt

 

I. Fomenko und seine „Neue Chronologie“
Astronomie
Kritik der chronologischen Methoden
Statistik

II Der Zusammenhang

III Schlußbetrachtung

Anhang 1: Bibliographie
Fomenko
Kritik des Fomenkoismus
Scaliger
Die Chronologiekritiker in Deutschland
Andere benützte Quellen

Die Berufsgruppe der russischen Historiker befindet sich in einer tiefen Krise. Materiell gesehen: die Gehälter sind minimal; so wirkt dieser Beruf kaum anziehend auf die junge Generation, deren dynamischere Repräsentanten die Geschäftswelt einer unsicheren Zukunft als Universitätsprofessoren in einem Staat, wo Mangel herrscht, vorziehen. Von der Forschung her gesehen: die marxistisch-leninistische Traditon, seit langem ausgehöhlt und seit einigen Jahren ‚abgeschafft’, sowie ein Mangel an alternativen Vorgaben, da die Versuche der Sechzigerjahre sich nicht als richtige Schulen etablieren konnten, dazu eine Kulturgeschichte, die sich an der Semiotie eines Tartu orientiert und neuerdings der Postmodernismus, der kaum originale Werke hervorbringt, die auf neue Forschung gegründet wären. Diesem allen gliedert sich noch ein allgemein schwaches Wissen der ausländischen Geschichtsarbeiten an sowie eine sehr starke Instrumentalisierung der Geschichte durch sämtliche politischen Diskurse und Zeichensetzungen – zahlreiche Berufshistoriker sind in der Tat zu Soldaten an der Front des Informationskrieges geworden, der zwischen Politikern und ‚Oligarchen’ tobt, wie etwa Gleb Pavlovskij, Direktor der „Vereinigung für eine effektive Politik“ oder Sergeij Dorenko, Nachrichtensprecher des Ersten Programms des staatlichen Fernsehens.
In diesem Umfeld bewegt sich die Aufnahme der Arbeiten von Anatolij Fomenko, Professor für Mathematik an der Staatsuniversität Moskau, und seiner Mitarbeiter, die seit Anfang der 1980er Jahre eine große Anzahl von Arbeiten von eindrucksvollem Umfang veröffentlicht haben; darin schlagen sie eine radikale Erneuerung der chronologischen Ordnung sämtlicher Ereignisse der Weltgeschichte mindestens bis zum 15. Jahrhundert vor, wobei sie sich auf quantitative, hauptsächlich statistische Methoden stützen.
Die vorliegende Arbeit möchte diese Theorien sowie deren Auswirkungen darstellen, wobei der Streit fast gänzlich in Frankreich und Deutschland unbekannt blieb, ausgenommen einiger spezialisierter Rußlandkenner. Sie möchte Beobachtungen von institutioneller Art bieten, die helfen können, diese Auswirkungen zu beurteilen (die man übrigens kaum als Debatte bezeichnen kann) und sie ins Blickfeld rücken.

Dafür empfiehlt es sich, zunächst die Ideen von Fomenko und seiner Gruppe in gewissen Einzelheiten vorzustellen, denn es ist nicht einmal in Russisch leicht, eine Zusammenfassung dieser Ideen aus der Feder eines „Neutralen“ zu finden. In dieser Vorstellung der Methoden Fomenkos bemühe ich mich daher, jeglichen bewertenden Kommentar zu vermeiden.
Daraufhin werden die Antworten auf Fomenko in den verschiedenen Schritten seiner Arbeit untersucht, bevor ich fortschreite zu einer institutionellen Analyse dieses Angriffs auf die etablierte Geschichtsschreibung. Das Beispiel in Deutschland, wo diese Ideen ebenfalls einen sehr begrenzten Erfolg vorweisen, könnte als Kontrast dazu beitragen, die Besonderheiten der russischen Debatte besser zu zeigen.

I. Fomenko und seine „Neue Chronologie“

Fomenko und seine Mitarbeiter (eine kleine Gruppe Moskauer Mathematiker und Physiker) versuchen das, was sie traditonelle oder „scaligerische“ Chronologie nennen, zu zerstören, und zwar durch astronomische Methoden und durch eine Kritik an den radio-nuklearen Methoden. Sie schlagen gleichzeitig eine neue Rekonstruktion des „chronologischen Atlas der Welt“ vor auf der Grundlage einer statistsichen Behandlung der schematisierten historischen Quellen. Ihre Schlußfolgerung ist – verallgemeinert – daß die Weltgeschichte, so wie sie allgemein dargestellt wird, in ihrer Chronologie „vier mal länger“ ist als sie sein sollte, weil jüngere Ereignisse in ältere Epochen versetzt wurden wie mit Pauspapier. So sei die Person Jesu Christi eine „schlechte Kopie“ von Papst Gregor VII Hildebrand, Julius Cäsar sei eine Projektion von Otto III, und so weiter. Das Irrsinnige dieser Folgerungen hat die von der Gruppe „Neue Chronologie“ angewandten Methoden verdunkelt, wie anschließend ausgeführt wird.
Sehr wichtig ist für das Folgende, zu begreifen, daß das Problem nicht darin besteht, die Chronologie als sich wiederholende Perioden aufzufassen, ein Thema, das in allen historisierenden Überlegungen im Frankreich des 20. Jahrhunderts vorkam – es geht Fomenko und seiner Gruppe zum Beispiel nicht darum, ob das Mittelalter im 5. Jahrhundert oder im Jahr 214 beginnt – sondern festzustellen, ob der letzte weströmische Kaiser vor 1500 Jahren oder vor 900 Jahren starb.

I) Astronomie

Der Ausgangspunkt der Untersuchungen Fomenkos war die Frage nach den Werten der Mondbeschleunigung, deren Berechnung sich unter anderen auch auf die Angaben stützte, die im Almagest des Ptolemäus geliefert werden. Fomenko hatte herausgefunden, daß eine starke Anomalie in der Entwicklung dieser Veränderung beseitigt werden könnte, wenn man den Sternkatalog, der allgemein dem 2. Jahrhundert u.Ztr. zugerechnet wird, dem Abschnitt zwischen 600 und 1300 zuteilen würde. Indem er nun systematisch die astronomisch berechneten Angaben über Sonnenfinsternisse mit den durch die Chroniken gelieferten Angaben verglich – seien es Ägypter, Griechen oder Römer – fand er überall Abweichungen heraus (zum Beispiel Beschreibungen von nicht-totalen Finsternissen wo Rückberechnungen eine totale Finsternis ergaben, und umgekehrt), die aber ausgeschaltet werden könnten, wenn man die Daten dieser Chroniktexte änderte, indem man sie in der Zeit „heraufbewegte“ in eine jünger Epoche – und stellenweise auch den Zeitpunkt ihrer Herstellung.

II) Kritik der chronologischen Methoden

Indem Fomenko die von den Historikern angewandten Methoden, die zur Datierung dieser Texte geführt hatten, untersuchte, stieß er auf Scaliger und Petavius, die er, und besonders den ersten, als Gründer des allgemein bis heute verwendeten chronologischen Systems, mit dessen Hilfe man archäologische Funde und geschichtliche Ereignisse datiert, anführt. Auch wenn Fomenko häufig die Titel Opus novum de emendatione temporum von Scaliger (1583) und De doctrina temporum von Petavius (1627) zitiert, ist es doch unwahrscheinlich, daß er diese Texte im Original studiert hat; seine Beurteilung dieser Autoren scheint sich fast ausschließlich auf eine Zusammenfassung zu gründen, die in einem russischen Werk enthalten ist: Die Chronologie der Alten Welt von E. Birkmann (1975).
Dann findet Fomenko eine Reihe von Autoren, die die Datierung früherer Ereignisse kritisch beurteilten – so nennt er die späten Arbeiten von Isaac Newton gleichermaßen wie die kritischen Bemerkungen von Theodor Mommsen über Titus Livius und die römischen Chronisten, und besonders das Lebenswerk von Nikolai Morozov (1854-1946), fachübergreifender Forscher aus der Bewegung der Volkstümlichen Russen (narodniki), der in den 1920er Jahren den Versuch unternahm, die biblische Chronologie zu revidieren und zu zeigen, daß die biblischen Texte in verfälschender Absicht mehrmals dieselbe Serie von Ereignissen beschreiben. Fomenko sieht Morozov als seinen hauptsächlichen Vorläufer an.
In methodologischer Hinsicht besteht die Kritik Fomenkos im wesentlichen in der Annahme, Scaliger habe sich bei seiner systematischen Herstellung der alten Chronologie auf eine wenig kritische Lektüre der traditionellen kirchlichen Texte gestützt, und daß seine Verwendung astronomischer Methoden ihm nur gedient habe, die Wahrheit der aus dieser Tradition entnommenen Daten zu bestätigen statt sie zu untersuchen.
Weiterhin zählt er die Angriffe auf, die gegen die Hilfsmethoden zur Datierung in der Archäologie vorgebracht wurden, besonders der Radiokarbonmethode und der Dendrochronologie. Nach Fomenko liegt der wichtiges Schwachpunkt dieser Methoden darin, daß sie eine vorherige Kalibrierung benötigen, die der „skaligerschen Chronologie“ folgt und damit als Bestätigung des chronologischen Systems in seiner Gesamtheit ausscheidet.

III) Statistik

Überzeugt von der Richtigkeit seiner Kritik bemüht sich Fomenko, eine neue Methode zu erarbeiten, die ein Dokument oder Ereignis chronologisch richtig einordnet. Er findet sie in der Statistik. Um die „skaligersche Chronologie“, wie er sie sieht, in eine quantifizierbare Form umzuwandeln, die statistisch bearbeitbar ist, sammelt Fomenko das, was er „chronologische Weltkarte“ nennt, worin eine Reihe „wesentlicher Ereignisse und Zeitabschnitte“ der europäischen und mittelmeerischen Geschichte zwischen 4000 v.Chr. und 1800 n.Chr. liegen, entsprechend ihrer Beschreibung in einer Auswahl von allgemeinen Geschichtswerken der entsprechenden Gegenden und Zeiträume.
Eine solche Karte zeigt nun zum Beispiel als chronologische Parallelen die Herrschaftsdaten westgotischer Fürsten, byzantinischer Kaiser und römischer Päpste; Fomenko glaubt auf diese Weise den Idealtyp des Geschichtsnachschlagewerks geschaffen zu haben.
Auf diese riesige Karte wendet er nun seine statsitische Methode an, nämlich die Zählung der Namen und Ereignisse und ihren graphischen Niederschlag. Das Ergebnis scheint mit astronomischen Berechnungen zusammenzufallen: Die Schematisierung dieser Graphiken zeigt vier Abschnitte, jeweils um mehrere Jahrhunderte verschoben, in denen die Graphiken jeder der ausgewählten Regionen sich formmäßig mehr oder weniger wiederholen. (Anhang 2 zeigt zwei Arten, wie Fomenko und seine Mitarbeiter ihre Ergebnisse vorbringen; die in jenen Abschnitten erwähnten Namen sind weniger wichtig als die dem Arbeitsgang innewohnende Logik, gut erkennbar durch die angedeuteten Paralleln, die etwas chaotisch in den beiden Schemata auftreten.)
Indem nun Fomenko diese vier Abschnitte einander gegenüberstellt, findet er überall Parallelen in den Einzelheiten der Lebensläufe und Ereignisse, die das Material der Quantifizierung enthält. Diese Parallelen und ihre Auswertung sind es, die die Hauptsache der von der Fomenko-Gruppe hervorgebrachten Arbeit ausmachen; hier dazu ein Beispiel (die Zahlen in Klammern entsprechen „der der jeweiligen Herrschaftsdauer“):
„Die Karolinger und das Römische Reich im III-IV Jh. n.Chr. Tafel 1

Mittelalter Antike
Die Karolinger, das Reich Karls d.Gr. im VII-IX JH. Verschiebung um 360 Jahre (...) Fragment des 3. Röm. Reiches des III-IV Jh. (Hauptsächlich Herrscher des Ostreiches)
1. Pipin von Géristal 681-714 (33) 1. Constantius II 324-361 (37)
2. Karl Martell 721-741 (20) 2. Theodosius I 379-395 (16)
3. Pipin d. Kurze 754-768 (14) 3. Arcadius 395-408 (13)
4. Karl d.Gr. 768-814 (46) 4. Theodosius II 498-540 (42)
5. Karl d.Gr. 768-771 oder 772 (3 oder 4) 5. Constantin III 407-411 (4)
Die berühmte Karlsche Schenkung (774) gibt italienisches Gebiet dem Papst Die berühmte konstantinische Schenkung (im IV Jh.) gibt Rom dem Papst
[…] […]
zitiert nach: (Kritika tradicionnoj hronologii…, p. 77)

Die letzten Eintragungen zeigen eine der Regeln der Quantifizierungsweise Fomenkos: Die Erwähnung ein und derselben Persönlichkeit unter verschiedenen Namen werden getrennt behandelt.

Fomenko glaubt, daß diese „Paralellen“ das Zeichen einer systematischen „Abhängigkeit“ zwischen den vier behandelten Zeitabschnitten sind, ein Beweis dafür, daß die älteren drei Abschnitte verderbte Projektionen des vierten sind.
Er versucht auch, diese Hypthesen zu beweisen mittels einer Reihe von anderen statistischen Methoden – besonders dem „Prinzip des Verhältnisses der Anhäufung“ – indem er die Seiten zählt, die einem gewissen Jahr in der Geschichtsschreibung gewidmet sind. Wenn die „örtlichen Maxima“ sich in zwei Zeitabschnitten wiederholen, d.h. wenn der Seitenumfang sich in gleicher Weise entwickelt, z.B. zwischen Jahren 0 und 100 wie zwischen 1053 und 1153, dann liegt laut Fomenko eine starke Wahrscheinlichkeit vor, daß die Texte, die diesen Graphiken zugrundeliegen, voneinander abhängig sind und sich demnach auf eine einzige Wirklichkeit beziehen, die im Zeitlauf künstlich verdoppelt wurde.
Um dieses Phänomen zu erklären, schlägt Fomenko vor, Scaliger und die ihm vorangegangene Generation von ‚Chronologen’ habe bei der Vereinheitlichung der verschiedenen Kalender, die in den Quellen benützt wurden, sich systematisch geirrt und Dokumente in verschiedene Zeitabschnitte eingeordnet, die – obgleich in leicht verschiedener Sprache abgefaßt – ein und dieselbe Epoche beschrieben hätten. Die Renaissance, die Fomenko bizarrerweise im XI. Jh. beginnen läßt, wäre demnach keine Epoche der Wiederentdeckung der antiken Kultur gewesen, sondern tatsächlich die Zeit der Herstellung der meisten Texte, die später als antik aufgefaßt wurden.
Um diesem Entwurf mehr Gewicht zu verleihen, entwickelt die Fomenko-Gruppe einen ganzen Haufen von Hypothesen betreff der möglichen Irrtümer, die zu einer falschen Deutung dieser oder jener Quelle geführt haben könnten: schlechte Vokalisierung nichtvokalisierter Texte, Nichtbeachtung rhetorischer und religiöser Varianten bei der Beschreibung derselben Persönlichkeit, usw. Die Hypothese einer bewußten Fälschung oder Herstellung falscher ‚antiker’ oder ‚mittelalterlicher’ Dokumente durch die ‚Chronologen’ wird jedoch systematisch ausgeschlossen; für Fomenko und seine Mitarbeiter handelt es sich tatsächlich um eine ‚Sünde’ seitens Scaligers, aber nicht aus schlechter Absicht sondern eher aus Unkenntnis.
Fomenko betont mehrfach, daß er seine Methoden astronomischer Berechnung und statistischer Behandlung der Texte als den Kern seiner Arbeit ansieht, wogegen die Rekonstruktion „alternativer Chronologien“ nur den Status von Hypothesen haben. Es sind jedoch gerade diese Hypothesen, die in einer systematisch romanhaften Form den größten Erfolg im Buchhandel hatten. In dieser Reihe seiner großen Bände sind Fomenko und seine Mitarbeiter zu einer immer radikaleren Rekonstruktion der Weltgeschichte bis zum 16. Jh. gelangt (stets als reine Revision der „scaligerschen Chronologie“ dargestellt). Um einige Beispiele zu geben: Das 14. Jh. sah tatsächlich den Aufstieg eines riesigen Reiches mit Mittelpunkt in Moskau unter Einbeziehung der osmanischen und mongolischen Reiche und großer Teile Europas (oder eher: sie zeitgleich repräsentierend). Erst nach Aufteilung dieses Reiches haben die neuen Herrscher des ‚kleinen’ Rußland, die Romanofs, eine neue Version der Geschichte festgelegt, die der Legitimierung ihrer Dynastie diente, wobei das gemeinsame Erbe umgewandelt wurde, das im übrigen sich über Europa verbreitet habe in einer Vielzahl von Mythen und Legenden, da nur wenige exakte Chroniken bis zum 15. Jh. vorlagen. Mehr noch, die gesamte chronologische Abfolge in China sei ein äußerst spätes Muster, an die aus Europa eingeführte „scaligersche Chronologie“ anschließend nach den ersten Kontakten mit den jesuitischen Missionaren, denn China besaß nur dynastische Chroniken, die untereinander nicht verbunden waren, und die nach dem für Europa schon gezeigten Vorbild in verschiedene chronologische Schichten „hineinkopiert“ worden seien.
Überflüssig, weitere Einzelheiten dieser monströsen „Rekonstruktionen“ hier vorzustellen; bliebe anzufügen daß die Argumentationsweise in diesen Werken im wesentlichen von der von Fomenko erfundenen statistsichen Methode besteht, deren Ergebnisse schon als erworbene Grundlage betrachtet werden; dabei kommen begriffliche Analogien zustande nach der Art „AFRIKA = THRAKIEN“ (russisch AFRIKA = FRAKIYA) oder ASIA = AS-LAND = SKANDINAVIA“ . Die große Mehrzahl der Arbeiten, die so „analysiert“ werden, stammen offensichtlich aus russischer Übersetzung und nicht aus den originalen Chroniken oder betrachteter Zusammenfassungen.

II. Der Zusammenhang

Die Frechheit dieser „Chronologiekritik“ mag offenkundig sein; hier ist sicher nicht der Ort für eine detaillierte Kritik der vielzähligen Schriften Fomenkos. Was dagegen viel interessanter zu studieren wäre, ist die Entwicklung der Debatte um diese Werke in Rußland, und der Bedingungen, die den Aufstieg der Theorien Fomenkos begünstigt haben.
Abgesehen von einer recht eingehenden und vernünftigen Kritik, die 1981 in einem Fachblatt über antike Geschichte erschien (die ich nachher näher betrachten werde), hat sich die hauptsächliche Debatte in den 1990er Jahren in der Presse abgespielt, nachdem mehrere vielseitige Bände die Ideen Fomenkos popularisiert hatten. Fast alle veröffentlichten Erwiderungen, ausgenommen einer kleinen Zahl von positiven aber harmlosen Beurteilungen, sind in einem emotional aufgeheizten Stil verfaßt und beziehen sich häufig nur auf einen kleinen Aspekt der „Methode“ oder häufiger auf die „Ergebnisse“ der Gruppe um Fomenko. Sogar die Beiträge von Historikern enthalten häufig nur verulkende Bemerkungen und manchmal persönliche Angriffe bis hin zur Anschuldigung des “Faschismus“. Einige Versuche wurden unternommen, gewisse Ansichten des „methodischen Apparates“ der Gruppe zu kritisieren, sie waren jedoch sehr begrenzt und stückweise.
All das ist verständlich. Jeder Historiker, der sich seiner Methoden sicher ist, müßte eine Beschäftigung mit den Ideen von Fomenko als Zeitverlust ansehen; allerdings würde die große Volkstümlichkeit und die stetig wachsende Menge der Werke Fomenkos und seiner Schüler eine spezialisiertere Reaktion erfordern.
Einerseits erlaubt die praktisch vorherrschende Meinung von Fomenko in der Diskussion (mittels der in Buchläden stets vorhandenen Werke, im Gegensatz zu den meisten Presseartikeln seiner Gegner) ihm, von den „Historikern“ eine Verteidigung der „scaligerschen Chronologie“ zu verlangen und alle Antworten zu übergehen, die seiner Meinung nach nicht den mathematischen Apparat seiner Kritik berühren – Begriffe, die schon von seinen Gegnern, selbst den feindlichsten, aufgegriffen wurden.
Andererseits behandeln die Kritiken an Fomenko kaum, daß die fomenkoschen Angriffe, oder eher noch das Phänomen, das sie ausmachen, eine tatsächliche Verachtung der historischen Wissenschaft bedeuten, wie sie im postkommunistischen Rußland Schwierigkeiten hat, ihre Rolle neu zu definieren. Die Überheblichkeit der akademischen Geschichtswissenschaft, die kaum ein gesellschaftliches Phänomen analysieren kann, das nicht ernstgenommen wird, erlaubt Fomenko, sich als Erneuerer der Wissenschaft zu produzieren, der eine alte Generation von bornierten Historikern, die sich dem interdisziplinären Dialog verschließen, verachtet. (Hervorzuheben ist, daß Fomenko ehrlich davon überzeugt ist, daß seine Theorien mathematische ‚neutrale’ Hypothesen wiedergeben, die kein politisches Gewicht haben).
Bevor ich darauf eingehe und auf die Lehren, die sich aus der Affäre Fomenko ableiten lassen, möchte ich zuerst diejenige Seite dieser Affäre betrachten, die mir am wichtigsten erscheint, nämlich die Bedingungen – instituioneller oder intellektueller Art – die in den 1990er Jahren den Erfolg des „Fomenkoismus“ ermöglicht haben.
Weit überraschender als die allgmein schwache Antwort auf Fomenko seitens der Historiker ist der Erfolg, dessen sich diese Theorien in der russischen ‚Öffentlichkeit’ erfreut haben und immer noch erfreuen, nämlich unter der immer kleiner werdenden Zahl von Nutznießern des Buchmarktes, der gegenüber der sowjetischen Produktion stark geschrumpft ist. Dieser Erfolg, so begrenzt er sein mag, ist um so auffälliger im Vergleich zu Deutschland, wo ebenfalls eine Schule von Chronologiekritikern existiert – schon länger und besser organisiert und dennoch weniger akzeptiert oder überhaupt nur von der akademischen Geschichtsforschung beachtet. Der Hinweis auf eine Periode der Krise oder des ‚Übergangs’ im geistigen Leben der Russen scheint offensichtlich; das Phänomen ist jedoch vielfältiger und verdient eine Untersuchung, um eine eventuelle Interpretation in Begriffen wie „russische“ oder „orientalische Wissenschaft“ nicht aufkommen zu lassen, wie sie unter Rußlandexperten in zahlreichen Ländern wie auch Dissidenten in Rußland selbst üblich geworden ist. Das andere Extrem – einer solchen kulturellen Interpretation entgegengesetzt oder radikal fremdbestimmt, wie Geschichtswissenschaftler es nennen würden – wäre, den ‚Fomenkoismus’ in den Zusammenhang einer weltweiten Tendenz der Quantifizierung der Humanwissenschaften zu stellen, die gleichermaßen zerstörerische Ergebnisse in der Politikwissenschaft der Vereinigten Staaten wie in der Geschichtswissenschaft in Rußland hervorbringt.
Als ersten Faktor, den es zu beachten gilt, wenn man sowohl die Wirksamkeit als auch die Aufnahme der Arbeiten Fomenkos verstehen will, ist das hohe Ansehen, das traditionellerweise die Mathematik in Rußland genießt. Als ‚neutrale’ und nicht kostspielige Disziplin hat sie seit dem 19. Jh. Vorrang genossen bei Machthabern, die sich einer Wissenschaft bedienen wollten, die internationales Ansehen ohne politisches Risiko versprach. Als einziger Ausweg für begabte Studenten, die sich nicht dem Dienst an der offiziellen Ideologie unterwerfen wollten, erwarb die Mathematik in der Sowjetunion den Status großer Autorität, da sie eines der wenigen Felder war, wo der sozialistische Riese eine fast unangefochtene Vorherrschaft in der Welt besaß. Darüberhinaus war sie das einzige Forschungsfeld, das sowohl an den Universitäten als auch in Akademie der Wissenschaften fest im Sattel saß, somit fester verbunden mit der Erziehung als andere Wissensgebiete. Soweit Fomenkos Theorien Wiederhall erregten, war er besonders gut eingebettet in beide Strukturen: die akademische und damit Inhaber des gesellschaftlich höchst gewerteten Titels, den es in der Sowjetunion gibt, und zugleich Dekan einer Abteilung der Fakultät der Mathematik an der Staatsuniversität in Moskau, dem intellektuellem Zentrum des Landes und unabdingbares Sprungbrett für jegliche geistige Neuerung. Als Urheber von 26 mathematischen Abhandlungen, einer für diese Disziplin wahrhaft enormen Zahl, (er ist Spezialist für Topologie und Differential-Geometrie), wurden seine Arbeiten in mehrere Sprachen übersetzt und von der internationalen Gemeinschaft der Mathematiker sehr beachtet.
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Indem sich Fomenko der intellektuellen Freiheit und der beträchtlichen materiellen Unabhängigkeit, die ihm diese Stellung einräumt, bedient, kann er mit seinen Mitarbeitern seine Ideen hinsichtlich der chronologischen Untersuchung ausarbeiten und voranbringen, und zwar zunächst streng im Gewand mathematischer Ergebnisse. (Ihr erstes Werk zu diesem Thema erschien 1981 unter dem Titel: Neue erfahrungs-statistische Methoden um alte Ereignisse zu datieren, und ihre Anwendung auf die Chronologie der antiken und mittelalterlichen Welt; ein anderes von 1990 hieß: Methoden zur statistischen Untersuchung von erzählenden Texten und Anwendung auf die Chronologie, wohingegen neuere Bücher Das Reich und Das biblische Rußland betitelt sind.)
Anzumerken ist, daß entsprechend Hinweisen der Autoren ihre Erforschung der Chronologie schon 1974 begonnen hat, sechs Jahre vor der ersten Veröffentlichung – solche Forschung wäre strenggenommen unmöglich gewesen in den viel kleineren, enger ordganisierten und mehr ‚ideologisch überwachten’ Kreisen der Historiker.
Durch diese Verbindung astronomischer mit quantifizierter statistischer Forschung gelang es ihnen, ein gewisses gehobenes Niveau zur Vorstellung ihrer revisionistischen Hypothesen zu erreichen, woraus sich die Bildung einer Sonderkommission der Abteilung Geschichte an der Akademie der Wissenschaften seit dem Erscheinen ihres ersten ‚antichronologischen’ Werkes ergab. Diese Kommission bedeutet übrigens einen sehr interessanten Schritt hinsichtlich der Aufnahme dieser Arbeiten. Geführt von Historikern des Altertums hat sie eine sehr viel rationalere und detailliertere Kritik geliefert als die meisten, die darauf gefolgt sind (siehe Bibliographie im Anhang). Diese Kritik konzentrierte sich auf den formalen Aspekt des quantitativen Bereichs und enthielt sich unter anderem der vereinfachenden Übersicht, die Fomenko und sein Mitarbeiter Postnikov den „Onomastogrammen“ widmeten, Tafeln von Namen ohne Zusammenhang zur statistischen Behandlung. Der Artikel ist bemerkenswert wegen seiner völligen Abwesenheit von Bezügen zum marxistisch-leninistischen Kanon und der großen Breite der zitierten Werke, die die Kritik an Fomenko unterstützen.Dies erklärt sich durch den besonderen Status der Alten Geschichte innerhalb der historischen Disziplin in der Sowjetunion – der dem „Klassenkampf“ fernstliegenden ; sie konnte ihren Lehrgegenstand, zumindest während der Breschnjew-Zeit, mit viel mehr Unabhängigkeit und in engem Kontakt mit der internationalen Gemeinschaft abhandeln. Die vorrevolutionäre Tradition einer quasi-humanistischen Bildung war in diesem Bereich erhalten geblieben, ähnlich wie in orientalischen Studienfächern, einer weiteren festgefügten Bastion.
Der große Verkaufserfolg der Bücher von Fomenko in den 1990er Jahren läßt sich offensichtlich durch die Öffnung des verlegerischen Marktes erklären; zugleich auch durch die intellektuelle und institutionelle Strategie, die er anwendet, und vielleicht besonders durch einen geistigen Boden, der durch solche Hypothesen fruchtbar gemacht wurde seit den Umstürzen der 1960er Jahre. Was die Strategie angeht, hat die große Zahl von Veröffentlichungen (gefördert durch einen ‚persönlichen’ Herausgeber in Faktorial, einem relativ standfesten Verlagshaus) sowie auch die Bemühung, die Ergebnisse lesbar zu machen mit Hilfe von Berufsschriftstellern, eine mindestens so große Rolle gespielt wie seine Stellung als „innovativer Mathematiker“, die Fomenko sich gegenüber der historischen Wissenschaft, die als veraltet und kompromittiert aufgefaßt wurde, zu verschaffen wußte. In dieser Situation, in der der Verkauf einer historischen Monographie in nichtspezialisierten Buchläden ein großes Ereignis darstellt, erreichten die Werke von Fomenko eine Gesamtauflage von mehr als 100.000 Exemplaren, ergänzt durch unabhängige Nachfolger, die zusätzlich dazu beitragen, die „Neue Chronologie“ populär zu machen.
Indem Fomenko weiterhin die Unterstützung seitens seiner Fakultät an der Staats-Universität ausnützte, wobei er sich grundsätzlich als Mathematiker definierte, der nur die chronologischen Probleme als ein Anwendungsgebiet seiner mathematischen Arbeiten ansieht, konnte er eine Gruppe von Mitarbeitern (hauptsächlich Mathematikern und Physikern, aber auch einigen professionellen Historikern) um sich scharen, sogar von Schülern und Mitläufern, und das sogar auf dem Lande. Die öffentliche Unterstützung durch Gari Kasparov, dem Schachweltmeister, hat seine Anstrengungen in den Augen einiger seriös erscheinen lassen. Diese Zusammenballung mündete damals in die Schöpfung einer Zeitschrift, unerläßiche Ausdrucksform jeder intellektuellen Bewegung, die sich als ‚Schule’ etablieren möchte.
Unwichtig ist ebensowenig die Fähigkeit, sich vor dem Gegner („die Historiker“, wie Fomenko und seine Schüler sich ausdrücken) aufzubauen wie auch die Beziehung auf eine internationale (Newton) wie nationale Tradition (Morozov, russisches Wissenschaftsgenie). Die „anti-chronologischen“ Arbeiten von Morozov, der in der Sowjetunion Breschnjews fast ganz vergessen war, werden übrigens systematisch neu herausgegeben durch die Bemühungen des Verlegers von Fomenko.
Aber in erster Linie ist es das, was man das intellektuelle Klima in Rußland nennen könnte, das die Verbreitung des ‚Fomenkoismus’ fördert. Der Diskurs der Zivilisationen, den der konservativ.nationalistische Historiker Vadim Kojinov in den 1960er Jahren erneuerte, und die übergroße Beliebtheit der Arbeiten des „Neo-eurasisten“ Lev Gumilev haben – für einige – eine beträchtliche Geistesöffnung für jede allgemeine – und widersprechende – Theorie geschaffen; und diese beiden Diskurse wurden tatsächlich von gewissen Historikern (besonders ‚Kulturologen’) in den Kanon der ‚akzeptierten’ Geschichte eingegliedert.
Die fomenkoischen „Rekonstruktionen“, wohl vorgebracht in ehrlichem Bestreben (wenn auch ziemlich begrenzt) um eine intellektuelle Debatte, können offensichtlich der Politisierung nicht ausweichen, besonders im nationalistischen Lager. Schuld daran sind sicher die große Verbreitung der slavophilen Gedanken des 19. Jahrhunderts sowie die oben genannten neonationalistischen Theorien, die Fomenko und seiner Gruppe die Idee eingaben, die Weltgeschichte in Begriffen eines Russischen Reiches zu interpretieren, dessen Konstruktion nicht ohne Beziehung zu dem vorgeblichen „Eurasien“ des Ethnologen Gumilev steht. Hinzukommt die Furcht vor einer weltweiten Verschwörung gegen Rußland, feststehender Bestandteil jeder russischen National-Ideologie seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts, die einigen in den Machwerken Fomenkos zu finden meinen, obgleich, es sei wiederholt, Fomenko selbst eine Verschwörungstheorie in Sachen Chronologiefälschung ablehnt.
Gewisse Institutionen des nationalistischen Lagers (wie die Wochenzeitschrift Zavtra und die Zeitschrift Elementy) haben die „Neue Chronologie“ abgewiesen, dennoch werden die Bücher von Fomenko breit genug in den Läden mit nationalistischer Tendenz verkauft, neben einem profomenkoistischen Werk mit dem Titel Verschwörung gegen die russische Geschichte.
Einer der grundsätzlichen Beweggründe Fomenkos, der darin besteht, die Problematisierung der Geschichte durch eine Methode der Offenbarung zu ersetzen, paßt sehr gut zu der Mischung aus verletztem Nationalstolz und traditionellem Positivismus, der von der Mathematik ausgeht, Positivismus im eigentlichen Sinne, der die ‚harten’ Methoden der Mathematik einem ‚weichen’ Vorgehen der Geschichtsschreibung vorzieht, der in der kritischen Art, die Quellen zu deuten besteht.
Die Schwierigkeit, die die etablierte Geschichtsschreibung in diesem Zusammenhang damit hat, Fomenko einzubeziehen, zeigt sich unter anderem in einem neuen Buch mit dem Titel Geschichte Rußlands in kleinen Bissen, streckenweise gegen die Fomenko-Schule gerichtet, worin eine aufgebrachte Historikerin die intellektuelle Autortät des vorrangigsten Autors der Neuen Russischen Rechten zitiert, eines Schülers von Alain de Benoist und Bewunderer des 3. Reiches, mit dem Ziel, diese ‚wenig seriöse’ Geschichtsschreibung gewisser sehr bekannter Autoren zu ‚bekämpfen’.
Der Gegensatz zu Deutschland kann helfen, den Disput in seine Schranken zu verweisen: Als 1995 eine von Heribert Illig verfaßte günstige Kritik eines ins Englische übersetzten Werkes von Fomenko erschien, bestand schon eine breite „chronologiekritische Szene“ in jenem Land. Illig brachte in mehreren Schriften, viel zugespitzter als Fomenko, vor, daß die Person Karl d. Große eine historische Fiktion sei. Um Illig herum hatte sich in den 80er Jahren eine Anzahl Autoren geschart, denen es darum ging, die als ‚historisch’ deklarierten Sagen des Mittelalters zu entlarven. Illig besaß einen Verlag und eine Zeitschrift (siehe Bibliographie).
Allerdings ist diese „Szene“ in dem intellektuell viel reichern Deutschland, deutlich eingeschlossen ins Lager der Grenzwissenschaften, das sie mit den „Ufologen“ und den Schülern gewisser nonkonformistischer Forscher teilt. Eher unbekannt als systematisch ausgegrenzt durch die universitäre Geschichtsschreibung, wird dieses Lager in gewisse Verlagshäuser eingebunden, die als wenig reputabel angesehen werden, und von Forschern belebt wird, die nichtakademisch oder zumindest entfernt der Fakultät für Geschichte arbeiten. Die mögliche politische Last des „Fomenkoismus“ und seines Reiches wurde von Illig schnell erkannt, so daß er sich von Methoden Fomenkos distanzierte, was zu einer Teilung in der „Szene“ führte, die sich schon abzeichnete. Anstatt die inneren Diskussionen auf die Seiten der Zeitschrift der Bewegung zu begrenzen und einen Angriff auf die etablierte Geschichtswissenschaft zu führen, so vergeblich das in Deutschland auch erscheinen mag, hat diese ein wenig versteinerte Gruppe einen harten Schlag erlitten seitens einer Schule, die in Rußland unaufhörlich institutionelle Siege davonträgt.
Fomenkos Ideen haben auch in Serbien einen gewissen Erfolg verbucht, und besonders in Bulgarien, einem Rußland sehr nahe stehenden Land, wo ein in Moskau promovierter Mathematiker sich zum Vorreiter des fomenkoschen Reiches aufschwingt, wobei „die Bulgaren“ als wichtiges konstituierendes Element einbezogen sind.

III. Schlußbetrachtung

Um die Lehren, die die russische Geschichtsschreibung – und nicht nur die russische – aus dem Phänomen Fomenko ziehen kann, noch einmal zusammenzufassen, sollte zunächst einmal die Rolle der Öffentlichkeit angesprochen werden. Eingeschlossen in das kleine Feld der Experten, die die Institute der Akademie der Wissenschaften bevölkern, abgeschlossen selbst innerhalb der universitären Welt, übermäßig zufrieden mit diesem Zustand, gelingt es dieser Gruppe, die noch nicht der ‚Kulturologie’ zum Opfer fiel, nicht, ihre methodologischen und problematischen Dispute bekannt zu machen, zumindest einem breiteren intellektuellen Publikum, wie es etwa mit gewissem Erfolg der Schule der Annalen in Frankreich gelang. Die Anfeindungen, die zahlreiche Historiker in der Presse gegen Fomenko führen, tragen nicht dazu bei, das Ansehen dieser Berufssparte in den Augen jener zu heben, die auf Grund der stark „mathematisierten“ Erziehung in Rußland leichter überzeugt sind von der ‚neutralen’ Darstellung eines Fomenko.
Wichtiger aber ist wohl, daß die von Fomenko aufgeworfenen Fragen, sofern man vom politischen Spiel und der häufig sensationalistischen Ausdrucksweise seiner „Ergebnisse“ absieht, sicherlich interessante historische Forschungen anregen könnten, oder zumindest ein größeres Interesse für die chronologische Literatur, wie sie im Westen existiert und in Rußland häufig nur schwer erreichbar ist.
Man muß nicht Mathematiker sein, um die Wohlbegründetheit der Arbeiten von Scaliger (wie dies Anthony Grafton besonders in „Scaliger’s Chronologie“ zeigt) anzuzweifeln, auch wenn dieser nicht kritiklos oder als Einzelgänger schrieb, was ihm die Fomenkoisten vorwerfen. Scaligers Gründerrolle für die Chronologie (oder eigentlich Datierung) der antiken Geschichtsschreibung, die nach ihm betrieben wurde, verdiente vielleicht eine tiefergehende Untersuchung. Eine strenge Begründung der wissenschaftlichen Chronologie, wie sie von Fomenko gefordert wird, kann gewiß nicht mathematisch erlangt werden, weshalb systematische Untersuchungen mit den vorhandenen Methoden angestrengt werden müssen.
Mehr noch, der Gegensatz zu Fomenko wäre ein wunderbares Gelände für die russischen Historiker, einen öffentlichen und kritischen Dialog zu führen, zum Beispiel mit der Tradition der Geschichtsschreibung ‚auf lange Sicht’. Man darf feststellen, daß obgleich die Altertumshistoriker wertvolle Kritik an der völlig schematisierten und imhaltsfernen Normierung der Fomenko-Schule übten, der Ereignis-Kern dieses Versuchs zur Schematisierung fast ganz der Kritik entgangen ist. Nur als Sicht auf die Geschichte als eine Entwicklung großer Persönlichkeiten und Geschehnisse ist eine solche Normierung denkbar; und indem die aufgetauchten Probleme als eine Periodiserung der Strukturen oder Institutionen auf lange Sicht gedacht werden, kann die Geschichtsschreibung mindestens zwei Fragestellungen in den Mittelpunkt der Debatte stellen, die von Fomenko und seinen Schülern völlig vernachlässigt wurden: einerseits der strukturalistische Versuch, und andererseits die „totale Geschichte“ der Annales, in denen die Betonung des globalen Zusammenhangs der Herstellung historischer Quellen bewertet wird, im Gegensatz zu einer völlig ahistorischen Aufwertung der historischen Quellen, die erst als vielgestaltige Zeugnisse untersucht werden müssen, nicht als mechanische Reflexe von Dynastien und Herrschaften.

Anhang I: Bibliographie

I. Fomenko

Die wichtigsten Arbeiten von Fomenko sowie mehrere andere Dokumente, und besonders zwei sehr gute Bibliographien der Veröffentlichungen seiner Gruppe und der Polemik in der Presse und der wissenschaftlichen Literatur (zusammengestellt und kommentiert durch Fomenko und seine Mitarbeiter) können in der Internet-Bibliothek von Maksim Moshkov auf der site web http://lib.ru/fomenkoat/ eingesehen werden.
Ein interessanter Zug der Bibliographie der Kritiker ist, daß alle positiven Artikel über die Fomenko-Schule eine „genaue (oder „kurze“) Wiedergabe“ des wesentlichen Problems bieten, wogegen die große Mehrheit der negativen Artikel „keine wertvollen Argumente enthalten“.
Die Bücher und Hefte Fomenkos haben zahlreiche Auflagen erlebt, wobei sie jedesmal bedeutenden Änderungen unterworfen wurden. Wir nennen hier nur einige Werke, die im Text zitiert wurden, dazu die Fassungen der neuesten Bücher, sowie die englischen Übersetzungen:

A.T. Fomenko, SOME NEW EMPIRICO-STATISTICAL METHODS OF DATING AND THE ANALYSIS OF PRESENT GLOBAL CHRONOLOGY. 1981. London, The British Library, Department of printed books. Cup. 918/87.

A.T.Fomenko, KRITIKA TRADICIONNOJ HRONOLOGII ANTIChNOSTI I SREDNEVEKOV'Ja. (KAKOJ SEJChAS VEK? ). Referat, - Moscou, izdatel’stvo mehaniko-matematicheskogo fakul’teta MGU, 1993

A.T.Fomenko, EMPIRICO-STATISTICAL ANALYSIS OF NARRATIVE MATERIAL AND ITS APPLICATIONS TO HISTORICAL DATING
Volume 1: The Development of the Statistical Tools.
Volume 2: The Analysis of Ancient and Medieval Records.
Kluwer Academic Publishers. 1994. The Netherlands.

G.V.Nosovskij, A.T.Fomenko, IMPERIJa. (Rus', Turcija, Kitaj, Evropa, Egipet. Novaja matematicheskaja hronologija drevnosti) - Moscou, 1996, izd-vo Faktorial

G.V.Nosovskij, A.T.Fomenko. BIBLEJSKAJa RUS'. IZBRANNYE GLAVY - I. (Russko-ordynskaja Imperija i Biblija. Novaja matematicheskaja hronologija drevnosti. Istorija rukopisej i izdanij Biblii. Sobytija XI-XII vv.n.e. v Novom Zavete. Pjatiknizhie). - Moscou, izdatel’stvo "Faktorial", 1999.

G.V.Nosovskij, A.T.Fomenko, VVEDENIE V NOVUJu HRONOLOGIJu. (KAKOJ SEJChAS VEK?). - Moscou, Kraft-Lean, 1999

II. Kritiker des ‘Fomenkoismus’
Unter den erwähnenswerten Kritikern (eine vollständige Liste befindet sich auf der obengenannten site) sind besonders folgende Artikel zu nennen:

E.S.Golubtsova et E.M. Smirin, O poytke primeneniya « novyh metodik statisticheskogo analiza » k materialu drevney istorii in Vestnik drevney istorii, 1/1982
Yu.N. Efremov, « Astronomiïa i « novaïa hronologiïa » » in Astronomicheskiï kalendar’ na 1998 god, comporte une critique des méthodes statistiques employées par Fomenko

III. Scaliger

Sein Hauptwerk über Chronologie :
Joseph Scaliger, Opus novum de emendatione temporum, Paris, 1583
Kommentar und Esaai von Anthony Grafton, Joseph Scaliger : a study in the history of classical scholarship - I. Textual criticism and exegesis, II. Historical chronology, Clarendon Press, Oxford, 1983 et 1993
« Scaliger’s Chronology » in Defenders of the text, Harvard University Press, Cambridge, MA/London, 1991, pp. 104-144

IV. Die deutschen Chronologiekritiker:

Die site web „Geschichte und Chronologie“ http://geschichte.eu.cx ist das Hauptforum der wenig zahlreichen Anhänger von Fomenko in Deutschland; sie gibt auch einige bibliographische Hinweise auf gewisse andere Autoren der „chronologiekritischen Szene“.

Die Schule von Heribert Illig hat als Plattform die Zeitschrift Zeitensprünge (bis 1995 : Vorzeit-Frühzeit-Gegenwart) und den Berliner Geschichtssalon.

Die hauptsächlichen „antichronologischen“ Werke von Heribert Illig:

- (mit Gunnar Heinsohn): Wann lebten die Pharaonen?, Archäologische und technologische Grundlagen für eine Neuschreibung der Geschichte Ägyptens, Eichborn Verlag, Frankfurt/M., 1997
- Chronologie und Katastrophismus, Vom ersten Menschen bis zum drohenden Asteroideneinschlag, Mantis Verlag, Gräfelfing; 1993
- Hat Karl der Große je gelebt? Bauten, Funde und Schriften im Widerstreit; Mantis
Verlag, Gräfelfing, 1994
- Das erfundene Mittelalter. Die größte Zeitfälschung der Geschichte, Econ Verlag, Düsseldorf, 6ème édition, 1996
- Wer hat an der Uhr gedreht? Wie 300 Jahre Geschichte erfunden wurden, Econ&List,
München, 1999

Zwei szenenahe Autoren haben ein Buch veröffentlicht, das speziell der Kritik an den Hilfsmethoden der Datierung gewidmet ist :
Christoph Blöss, Hans-Ulrich Niemitz, C14-Crash. Das Ende der Illusion, mit
Radiokarbonmethode und Dendrochronologie datieren zu können, Mantis Verlag, Gräfelfing, 1997

Weitere benützte Quellen:

Graham, Loren R., Science in Russia and the Soviet Union: A Short History, Harvard University Press, Cambridge/MA, 1993
Jacques Le Goff, Histoire et mémoire, folio, Paris, 1977
Krzysztof Pomian, L’ordre du temps, Gallimard, Paris, 1984

Aus dem Französischen ins Deutsche übersetzt von Uwe Topper
04. 04. 2011

 

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