Das Christentum ist noch jung
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Berlin · 2016  Uwe Topper topper


Das Christentum ist noch jung
(Veröffentlicht in : Das Jahrkreuz 2016, S. 381-391)

Ein Grundgedanke, der schon vielfach auch im 19. Jahrhundert geschrieben und diskutiert wurde (teils von Hardouin angeregt), besagt, daß das Christentum, wie wir es heute in Europa pflegen, auch hier entstanden ist und in recht junger Zeit, nämlich zu Beginn der Neuzeit vor etwa sechshundert Jahren. Damit wird zugleich der historische Kern eines behaupteten Ereignisses in Palästina sowie auch die lange Geschichte der Kirche von zweitausend Jahren bestritten und zur Beweisführung herausgefordert.
Nachdem sich Generationen von Theologen und Suchern – von Bruno Bauer über Wilhelm Kammeier bis Hermann Detering – abgemüht haben, die Entstehungsgeschichte von Bibel und Kirche zu verstehen, habe ich nicht vor, hier eine neue Lösung auszubreiten, sondern möchte nur zeigen, daß meine noch schärfere Umwälzung der Chronologie dieser Vorgänge nicht im Widerspruch sondern im Zusammenhang mit den radikalen Erkenntnissen der Geschichtskritik steht, daß nämlich die Entwicklung der Kirche und ihrer Schriften viel schneller, vor allem ruckartig, vor sich ging, also keineswegs die vielen Jahrhunderte gebraucht haben kann, die ihr nach dem in der Renaissance aufgebauten Muster zugeteilt werden. Ich beweise damit nicht meine aus den astronomischen Beobachtungsdaten abgeleitete Verkürzung des Geschichtsablaufs, sondern zeige nur, daß gewisse Probleme in der Überlieferung eher zu dieser Verkürzung passen als ihr zu widersprechen.
Kammeier hat (Bd. I, S. 175) festgestellt, daß die „universale Fälschungsaktion“ zu Beginn der Renaissance nicht um materieller Vorteile sondern um ideeller Beweggründe willen durchgeführt worden war, weil keine echten Vorlagen oder Zeugnisse vorhanden waren. Als Beispiel führt er auch das Fehlen weltlicher Registerbände der Regierungen an, während gleichzeitig päpstlich-kirchlich-klösterliche Registerbände in großer Zahl gezeigt werden, von denen wir wissen, daß sie alle gefälscht sind. Er glaubt an eine „systematische“ Vernichtung der weltlichen Bücher seitens der Kirche zwecks „Umfälschung der Geschichte“. Wie mag er sich das vorgestellt haben? Er hat doch sonst ein so natürliches und menschliches Bild jener Zeit und ihrer Ereignisse entworfen! Es ist undenkbar, daß Priester oder Mönche Zugang zu allen Fürstenhöfen hatten und deren Akten zerstören konnten, ohne Aufsehen zu erregen und ihrer gerechten Strafe zugeführt zu werden. Er sagt nur: „... darum hat sie (die Kurie) auch bei der Vernichtung der weltlichen Register ihre Hand im Spiel gehabt“ (S. 218) und das Jahrhunderte hindurch? Unvorstellbar.
Kammeier zitiert das Standardwerk von Harry Breßlau, Urkundenlehre (I, S. 169), wo wir erfahren, daß abgesehen von einigen Gebieten (etwa Sizilien) ein ständiges Reichsarchiv erst seit 1422 existierte. Wenn keine Register der ausgestellten Urkunden übrigblieben, nicht einmal davon berichtet wird, dann haben auch keine existiert. Sie sind nicht zerstört worden, sondern es gab diese ganze Geschichte nicht.
Zwischen 10. und 13. Jahrhundert gab es auch keine Rechtsbücher, Kammeier spricht von den „stummen“ Jahrhunderten. Der Neubeginn schriftlicher Gesetze sieht dann auch entsprechend verwirrend aus. Im Sachsenspiegel des Eike von Repgow wird der Grund für dessen Niederschrift deutlich ausgesprochen: „Da die alte Ritterschaft des Landes weggestorben war und die junge sich als des Rechts unkundig und unsicher bei der Anwendung erwies“ (S. 269). Es war eine Lücke entstanden, es gab eine rechtlose Zeit. Was den völligen Neuanfang nötig gemacht haben könnte, wird nicht gesagt.
Sollten so bekannte Humanisten wie Annius von Viterbo oder Abt Trittenheim sich durch ihre haarsträubenden Fälschungen wirklich dem Risiko ausgesetzt haben, schon wenig später der Gaunerei überführt zu werden? fragt Kammeier (Bd. I, ab S. 229). Sie müssen sich vollkommen sicher gefühlt haben, weil es keine echten Zeugnisse gab und keine auftauchen konnten, die ihre Erfindungen entlarvt hätten. Trotz dieser klaren Einsicht gelangt Kammeier nicht zu der Erkenntnis, daß es sich um nicht-gelebte Zeiträume handelt, die da literarisch erstellt und oft sogar mit Fälschungen von Münzen und Inschriften belegt wurden.

Die Verlagerung und Verjüngung der Ausbildung des heutigen Christentums, die Hardouin, Kammeier und viele andere im Europa des ausgehenden Mittelalters sehen, besagt nicht, daß es im Orient keine christlichen Kirchen gegeben habe, sondern daß deren Entwicklung sehr viel später als behauptet ablief und von Westen her erfolgte. Einer der Entstehungsherde des Papsttums ist Südostfrankreich und besonders Avignon vor 600 Jahren gewesen, wie Kammeier (Bd. 2 und 3) ausführlich belegt.
Franz Siepe (2002) spricht von „regressiver Geschichtsschreibung“, wenn er die Gewohnheit der Theologen schildert, neu einzuführende Glaubenslehren – wie zum Beispiel die leibliche Aufnahme Mariens in den Himmel am 15. August – mit immer weiter zurückreichenden ‚historischen‘ Belegen zu bekräftigen, die schließlich bis in die Entstehungszeit der Kirche und gar zu deren ersten Personen (hier der Apostel) führen sollen. Da werden ‚Dokumente‘ von einem Autor zum anderen verschoben und von einer Zeit in die andere, auch mal als Fälschungen hingestellt oder wieder als echt beglaubigt, je nach Bedarf, und dadurch immer konkreter als geschichtliche Beweisstücke weitergereicht.
Wenn wir auch die schrittweisen Erfindungen eines zweitausendjährigen Christentums heute durchschauen, war doch selten so deutlich auch von christlichen Theologen ausgesprochen worden, daß selbst in den sogenannten heidnischen Texten „durchsichtige Interpolate“ (Hermann Detering S. 179), zweckbedingte Kampfschriften und hinterhältig verfaßte Fälschungen vorliegen, die das Endprodukt in einem üblen Licht erscheinen lassen.
Unvorstellbar war zunächst, wie es gelingen konnte, einem ganzen Kontinent eine Religion aufzuerlegen, die in einer anderen Welt, im Orient, spielte. Dieses Befremden hat sich inzwischen abgemildert. So wie der fremdartig-rauschhafte Gott Dionysos in den apollinischen Glauben der Griechen eingedrungen war – ich denke an die Tragödie (Hirsch S. 161 f) – drang der „persische“ Mithras ins Römische Reich und der „orientalische“ Jesus in den europäischen Licht-Glauben, gefördert durch Wesensverwandtschaft, aber auch durch Eigenschöpfung vor Ort.
Das im 15. Jahrhundert in Mitteleuropa ausbrechende Christentum hatte auch griechische und orientalische Züge aufgenommen, vor allem die Geringschätzung der Frau (durch Aristoteles, Augustinus u.v.a.), was uns für das Europa der Renaissance in Erstaunen versetzen muß. Wie konnte sich diese – vor allem dem Deutschen – unvorstellbare Mißachtung der Frau hier durchsetzen? An Erklärungen mangelt es, nur eine Ausnahmesituation nach so streng einschneidenden Ereignissen wie Katastrophe und Pest könnte verantwortlich gemacht werden. Durch die schreckliche Verringerung der Bevölkerungsdichte und das Fehlen von Nachwuchs wurde die Frau zur Gebärerin degradiert, ihr Recht hinsichtlich Verhütung und Abtreibung annuliert, ihr Festhalten an traditionellem sozialem Verhalten (durch die „Hexen“) wurde zur Handhabe bei der Unterdrückung durch die neue Religion angewandt, wie Heinsohn /Steiger 1985 erklären.
Wie jung unser Christentum ist, wird einem erst so recht bewußt, wenn man die heute vorherrschenden Inhalte dieses Glaubens näher betrachtet. Der tiefere Gehalt geht – zumindest in der Evangelischen Kirche – auf die Pietisten des späten 18. Jahrhunderts zurück. Glaubensformen von Luther und seinen Zeitgenossen sind das äußerste, was man einem modernen Christen zumuten kann, Verständnis wird er für sie kaum aufbringen. In der Katholischen Kirche sieht es ähnlich, wenn auch weniger auffällig, aus. Die Scholastiker sind uns heute vollkommen fremd. Mehr als 450 Jahre, die seit dem Konzil von Trient verstrichen sind, möchte man die heutigen Glaubensformen auch da nicht zurücksetzen, ohne in ernste Widersprüche zu geraten. Der jetzige Katholizismus stammt aus der Barockzeit.
Die christliche Lehre ist auch heute noch wandelfähig in einem Maße, wie es eine zweitausendjährige Religion nie vertragen würde. Aus dem hübschen Mädchen Magdalena der Renaissance und des frühen Barock, das dem Herrn die Füße salbt und mit ihrem fülligen Haar trocknet, wurde eine bereuende Hure, was noch zur Schwülstigkeit des 18./19. Jahrhunderts passen mochte. Die Höhle, in der sie in Südfrankreich wohnte, und ihr Grab in La Beaume („die Einbalsamiererin“) erfreuen sich eifriger Verehrung. Heute ist sie die Geliebte Jesu geworden, ja seine heimliche Ehefrau, die ihm Kinder gebar, deren Nachfolger die Könige von Frankreich wurden. Diese hübschen Geschichten werden von einer großen Zahl von modernen Christen willig geglaubt, ja sie bilden einen gewissen heimlichen Grundstock neuer Frömmigkeit.
Oder man denke an den Geniestreich von Fatima (1917) mit dem Tränenschleier der Jungfrau über Rußland! Die Lebendigkeit des Christentums bezeugt, daß es sich um eine vergleichsweise junge Religion handelt.
Die Römische Kirche hat (laut Zeitungsberichten) kürzlich ihre „Dokumente“ der Inquisition ihren Gegnern zur Einsichtnahme geöffnet, eine „Fundgrube für Historiker“. Die leibliche Vernichtung zehntausender Andersdenkender und ihrer Bücher und Kunstwerke wird leichthin zugegeben. Die Kirche kann dies gefahrlos tun, ohne zur Rechenschaft gezogen zu werden, denn die Ansprüche sind „juristisch verjährt“. Zur Last legen muß man ihr dennoch die Erfindung einer unwirklichen Vergangenheit, die durch die „Offenlegung“ nur noch härter zementiert wird. Da hat man eine frühe Inquisition schon ins 13. Jahrhundert in Paris versetzt, fast drei Jahrhunderte vor dem bezeugten Beginn dieser Einrichtung in Spanien, Deutschland und Rom (Topper 2006, Teil 3). Die „Dokumente“ sollen Wissenschaftlichkeit und Weltgültigkeit erhalten, also über den rein theologischen Wert hinaus so etwas wie objektive Geschichte herstellen. So wird aus der „Fundgrube“ eine Fallgrube für Historiker.
Gegen diesen erneuten Versuch einer theologisch gesteuerten Geschichtsschreibung stehen die zahlreichen wissenschaftlichen und philosophischen Veröffentlichungen der letzten beiden Jahrhunderte. Ich wiederhole sie hier nicht, rufe nur einige auf und ergänze sie.
Wann die einzelnen Stücke der Bibel verfaßt wurden, ist jetzt nur noch schwer herauszufinden, wenngleich feststeht, daß sie paketweise gleichzeitig geschrieben wurden, zuerst wohl die Offenbarung des Johannes, dann einige Paulusbriefe, dann die ersten drei Evangelien, zuletzt das Johannesevangelium. Die Unstimmigkeiten im Neuen Testament weisen darauf hin, daß es spät und hastig verfaßt sein muß, mit Tendenzen befrachtet, die erkennen lassen, gegen wen es sich wendet: gegen Ketzer, Koran, Thora. Es wäre damit kein echter Überrest nach einer dunklen Zeit oder Katastrophe wie der Urkoran (siehe zuletzt Lüling), sondern nur nach diesem Muster hergestellt. Die Niederschrift des Neuen Testamentes lief unabhängig von der „Wiedergewinnung“ der klassischen Texte, die eine Neuschreibung war, wie zum Beispiel die Annalen des Tacitus durch Enea Silvio, die nicht die Kirche schrieb, weshalb sie von einem Jesus noch nichts wissen. Das bedeutet, daß die ehemalige Hauptkirche als Vertreterin der Lichtreligion und des Gesetzes die christlichen Anfänge („Pisa 1409“) nicht einmal wahrnahm, so unbedeutend waren sie. Eine christliche Volksbewegung gab es in Mitteleuropa nicht. Die Übernahme der Gerechtigskeitskirche durch Christen geschah schleichend, unauffällig, von oben her. Der Katholizismus entstand und festigte sich zuerst in Spanien bei der Eroberung von Granada (1492); ohne die spanische Weltkolonisierung gäbe es keine katholische Kirche (Topper 2006, besonders Kap. 3).
Anders die Mission der Lutheraner im deutschen Norden. Für Paulus ist „das menschliche Leben nicht schlechthin unglücklich oder sinnlos, sondern schuldbeladen.“ (Wyneken 1963, S. 86) Unglücklich – tragisch – wäre die antike Vorstellung, schuldbeladen steht vor dem Hintergrund der Gerechtigkeitsreligion, nicht der hebräischen Thora. So urteilt auch Luther: Die Weltschuld („Erbsünde“) wird getilgt durch den Erlöser, nur die „Händler“ halten länger am Gerechtigkeitsbegriff fest, wie der Ablaßhandel überdeutlich zeigt. Das ist die Situation zwischen 1500 und 1535.
Wann der Kanon der Bibel zusammengestellt und allgemein verbreitet wurde, ist für unsere Betrachtung wichtig. Das läßt sich nicht an Hand der vorhandenen Manuskripte, etwa des Sinaiticus von Tischendorf (siehe Topper 2001) oder Inkunabeln (Erstdrucken) ergründen, sondern nur aus menschlichen Zeugnissen der damaligen Zeit. Ich bringe einige Gedanken:
Daß Luther erst im Alter von 25 Jahren beim höheren Studium eine Bibel zu sehen bekam, hatte ich schon (2006, S. 193) erwähnt. Das war etwa 1505 in Frankfurt am Main. Ob sie vollständig war und in welcher Sprache, ist leider nicht gesagt worden. Bibeln waren jedenfalls äußerst selten und keine allgemeinen Schulbücher. Hätte Gutenberg, wie allgemein behauptet, schon ein halbes Jahrhundert vorher seine tausend Stück der gedruckten Bibel verkauft, dann wäre die Sachlage anders gewesen.
Juan Gil, Lehrstuhlinhaber an der Universität Sevilla und weithin bekannt für seine minutiösen Nachforschungen über Kolumbus und dessen Zeit, hat die Verbreitung von Büchern in damaligen spanischen Haushalten untersucht, besonders an Hand von Nachlaßbestimmungen der einzelnen Personen sowie auch von Bibliotheksregistern. Er wundert sich, daß so wenig Bücher überhaupt vorhanden waren, besonders in Privatbesitz. Vor allem hatte er naturwissenschaftliche Abhandlungen erwartet, aber weder astronomische Bücher oder Tafeln noch welche über Kosmografie oder Nautik, nicht einmal Landkarten, fanden sich in den Privatsammlungen der Geistlichen, Beamten und Kapitäne im Umkreis von Kolumbus. Letzterer ist die große Ausnahme; im Alter hatte er sich eine erstaunliche Bibliothek von über hundert Büchern zugelegt, um seine Rechtsansprüche auch literarisch zu untermauern.
Statt dessen gibt es bei den Gebildeten außer Kalendern und Notizbüchern zur Festhaltung der Finanzen häufig religiöse Werke wie Gebetsbücher, Psalmen, Doktrinen und einige Heiligenbilder, eine Lebensbeschreibung Jesu, auch einmal ein Evangelium in Romance (hier = Kastilisch) sowie den unvermeidlichen Lebrixa (eine Art Sprach-Duden). Das „Evangelium“ muß kein Neues Testament sein, wie Gil annimmt, sondern könnte eine tatianische „Harmonie“ oder eine inhaltliche Zusammenfassung sein.
Jedenfalls fand Gil keine Bibel, nicht einmal bei den Geistlichen. Das wäre doch das erste Buch gewesen, das ich bei allen erwartet hatte. Keine einzige!
Dies betrifft etwa den Zeitraum von 1495 bis 1520.
Die Flüchtlinge aus Byzanz hatten nach dem Verlust ihrer Heimat (1453) viele Bücher und Schriftrollen in ihrem Gepäck und wurden von den italienischen Sammlern wie Lorenzo de Medici reichlich belohnt für ihre Schätze. Sie brachten griechische Schriften von Homer und Platon und Thukydides und anderen antiken Philosophen mit, aber keine von Kirchenvätern wie Eusebius oder Hieronymus oder Julius Africanus, auch keine einzige Bibel. Sie waren ganz sicher noch keine Christen, „tausend“ Jahre nach der Christianisierung von Byzanz. Hardouin bestreitet (Prolegomena, in Johnsons Übers. S. 61 ff), daß die so häufig genannten griechischen Schriften aus Byzanz stammen, er hält sie für Übersetzungen aus dem Lateinischen, die in Italien hergestellt wurden.
Neu waren nicht nur die theoretischen Grundlagen der Kirche, sondern auch die Riten und die Hierarchie. Paracelsus schimpfte noch auf die neue Religion, das Christentum. In einem lateinischen Brief, den Johannes Oporinus, ehemals zwei Jahre lang Famulus beim Arzt Theophrastus Paracelsus in Basel, an Johannes Weyer 1555 schrieb, steht neben übler Schmähung des 1541 verstorbenen großen Arztes und Universitätsdozenten etwas, das zwar kaum jemandem heute mehr auffällt, aber zur damaligen Zeit gut paßt, weil es immer wieder aus den zeitgenössischen Zeugnissen ähnlich herausklingt:
„Aber ich habe ihn nie beten sehen oder hören, noch fragte er nach irgendeiner geistlichen Übung noch nach der evangelischen Lehre, welche zu der Zeit bei uns verehrt und geübt zu werden anfing, und von unserm Prediger sehr sorgfältig und fleißig betrieben wurde, welche er nicht nur verachtete, sondern auch drohte, daß er noch einmal Luther und dem Papst ... den Kopf zurechtsetzen werde ... usw.“ (zitiert nach Peuckert, S. 143 ff.)
Das war im Wintersemester 1526-27, als man in Basel anfing, die evangelische Lehre zu üben; evangelisch meint hier das Neue Testament, nicht Protestantismus. Hätte dieser Oporinus nicht schreiben müssen: „... nach der evangelischen Lehre, wie sie seit tausend Jahren am Rheine gelehrt wird.“?
Wie spät das Evangelium an die Ostseeküste kam, wird aus Micraelius (1640) und Arnekiel (1691) ersichtlich: In ihrer eigenen Zeit war die Bekehrung von Mecklenburg und Pommern gerade erst erfolgt, die Leute in den östlichen Nachbargebieten waren noch Wenden.
Und das Alte Testament? Einem vorchristlich-heidnischen Gottesdienst beizuwohnen ist uns nur noch ahnend möglich; wenige schriftliche Überlieferungen deuten ihn für uns an. Hesekiel nimmt bildhafte Einzelheiten am Tempel in Jerusalem in einer Vision wahr, die er folgendermaßen beschreibt (Kap.8): Am Nordtor zum inneren Vorhof steht ein Bildnis, „zum Verdruß des Hausherrn“, und er wiederholt denselben Text gleich noch einmal, so sehr ärgert es ihn. Er sieht noch mehr: In der Wand neben der Tür zum Vorhof ist ein Loch, durch das kann er sich einen Durchgang graben und dann den Vorhof betreten, wo er die Leute anbeten und weihräuchern sieht. An den Wänden stehen Bildnisse von Drachen und scheußlichen Tieren und fremdartigen Götzen. Die siebzig Ältesten weihräuchern und feiern im Dunkel, jeder in seiner eigenen Bilderkammer. Als er aber durch das Nordtor in den Tempel hineingeführt wird, sieht er die Frauen ihren Dienst verrichten: Sie klagen um Thammus, den Frühlingsgott. Die Steigerung kommt noch: Der Seher betritt den innersten Raum, das Allerheiligste. Dort stehen an die fünfundzwanzig Männer mit dem Rücken zum Altar, das Gesicht der aufgehenden Sonne entgegengewandt, und das tun sie überall im ganzen Land und „halten die Weinrebe an die Nase“, was eine versteckte Anspielung auf einen Kelch mit Wein sein kann. Der Altar steht demnach im Westen und der Fraueneingang ist im Norden, wie bei unseren alten romanischen Kirchen (siehe unten: ‚gedrehte‘ Kirchen). Auch die Figuren, Drachen und Scheusale, erinnern an den Bilderschmuck der Romanik.
Der anschließende zweite Teil dieser Vision hat nichts mehr mit einer gottesdienstlichen Beschreibung zu tun, es ist ein Albtraum, oder genauer hier, ein Wunschtraum des Sehers Hesekiel: Die alten Leute am Tempel und alle anderen in der Stadt, auch Jünglinge und Jungfrauen, Kinder und Weiber, die nicht das schützende Zeichen der neuen Religion auf der Stirn tragen, werden in einem gräßlichen Blutrausch erschlagen.
Wann könnten solche Ergüsse verfaßt und zur Heiligen Schrift geworden sein?
Die Theologen des 19. Jahrhunderts spürten durch minütiöse Textanalyse die Bruchstellen im Sprachduktus und die Widersprüche im Inhalt der Bibel auf. Sie isolierten herausfallende sprachliche und inhaltliche Textgruppen als „Zutaten“ und „spätere Einfügungen“ im Gesamttext. Sie fanden auch einige der dazu passenden Vorbilder im orientalischen Schriftgut. Während viele Wissenschaftler noch heute lehren, daß ein großer Teil der Bibel zuerst mündlich zusammengestellt und viel später erst niedergeschrieben wurde, sieht Richard Friedman (1989) das realistischer: Eine mündliche Herausbildung älterer Texte und deren Verwertung in der ‚Priesterschrift‘ scheint ihm unmöglich. Die Texte des ‚Jahwisten‘ und des ‚Elohisten‘ müssen kurz vor der ‚Priesterschrift‘ verfaßt sein, nicht mehrere Generationen eher. Die ‚Priesterschrift’ ist ein sorgfältig formulierter, Schritt für Schritt aufgebauter Text. Der ‚Priester‘ muß beim Schreiben die beiden Vorläufertexte ‚Jahwist‘ und ‚Elohist‘ vor sich auf dem Tisch liegen gehabt haben, die Ähnlichkeiten sind zu zahlreich und zu eng, die Abweichungen zu planvoll.
Diese letzte Feststellung von Friedman finde ich beweiskräftig. Gezielte Änderungen zwecks abweichender neuer Deutung kennzeichnen die Herausgeberarbeit, wie ich es am Beispiel der Offenbarung des Johannes (1993) gezeigt hatte. Ohne vorliegendes schriftliches Material, und seien es nur Fragmente, ist solche Arbeit unmöglich. Auch bei der Offenbarung lag zwischen ‚Urtext‘ und endgültiger Festlegung – mit kleinen Zwischenstufen – nur eine Generation.
Kurzum: die geschichtlichen Teile des Alten Testamentes müssen in äußerst kurzer Zeit von sehr wenigen Personen niedergeschrieben worden sein, das ergibt sich aus der Untersuchung.
Ich stimme Friedman nur hinsichtlich der Technik der Textanalyse und diesem Ergebnis zu. Die Einbettung der Erstellung des Alten Testamentes in eine geglaubte Geschichte, wie er sie betreibt, gehört meines Erachtens einer vergangenen Epoche der Bibelforschung an, wie sie im 19. Jahrhundert gerade noch verständlich war. Trotz der auch von Friedman vorgenommenen Verjüngung der Abfassungszeit um Jahrhunderte wird doch das auffällige Datierungsproblem nur umgangen, nicht bloßgelegt.

Die Aussage, Christentum und jüdische Religion seien etwa gleichzeitig und in gegenseitiger Abgrenzung entstanden, überrascht nur den Laien. Theologen sind sich über viele Punkte in diesem Sinne einig. Ich weiche nur hinsichtlich der ‚absoluten‘ Zeitbestimmung von ihren Erkenntnissen ab. Betrachten wir im Sinne der Theologie das wichtigste religiöse Motiv, das Opfer, das meist als Blutopfer ausgeführt wird! Während nur der Islam als vermeintlich jüngste der drei „abrahamitischen“ Religionen das Opfer eines Schafbocks alljährlich zum Schlachtfest, Passah und Ostern vergleichbar, tatsächlich darbringt, haben die beiden anderen Religionen die direkte Opferung abgeschafft und gedenken nur noch dieser Riten. Als erste haben die Christen sich heftig und für alle Zeit von dieser kultischen Rohheit abgewandt, indem sie das Opfer des Gottessohnes als vollkommenen Ausgleich dafür ansahen und als Gedenkfeier oder unblutige Wiederholung beim Abendmahl als Gestaltwandel (Transsubstantiation) beibehalten. Dieser Ersatz sei schon von Jesus empfohlen (in den drei synoptischen Evangelien) und von den ersten Gemeinden ausgeführt worden. Anders im Judentum: Nach der Zerstörung des Tempels in Jerusalem („70 AD“) und besonders nach der Vertreibung ins Exil („135 chr.Ztr.“) konnten die Hebräer ihre Blutopfer nach ihren eigenen Vorschriften nicht mehr abhalten und entwickelten komplizierte theologische Änderungen, die ein derartiges Ritual hinfort unnötig machten. Übrig blieben Erinnerungsfeiern ohne Opfer.
Der als ein Jahrhundert gedachte Abstand zwischen Christentum und Judentum (traditionell von 33 n.Chr. bis 135 n.Chr.) hinsichtlich der Abkehr vom Blutopfer wird kaum als Gleichzeitigkeit aufgefaßt, darum schreiben einige Theologen auch, daß das Judentum jünger sei und sich zumindest in diesem wichtigsten Punkt nach dem Christentum richte. In diesem Denkschema müßte der Islam als älteste der drei Religionen angesehen werden, was auch von einigen Theologen vertreten wird, besonders deutlich im Islam selbst, wo der ursprüngliche Islam, der Glaube Abrahams und Ismaels, als die reingebliebene und durch den Propheten wieder gereinigte Tradition der Hanifen, die anderen beiden Religionen als spätere Entartungen dargestellt werden.
Wann sich diese Wandlungen auf einem realen Zeitstrahl abgespielt haben könnten, bleibt vorläufig unergründlich. Naheliegend wäre, die realen Zeugnisse, also vor allem die archäologischen Funde, vorrangig heranzuziehen. Das dürfte – mangels besserer Dokumente – zunächst auf eine Entstehungszeit der drei Abrahamsreligionen kurz vor dem ‚Letzten Ruck‘, die Ausbildung in der aktuellen Gestalt auf unser 14. bis 16. Jahrhundert verweisen.
Während weder Koran noch Neues Testament chronologisch genauere Vorstellungen bieten, sondern im Gegenteil an eine zyklische Wiederkehr glauben oder in mythischer Zeitlosigkeit verharren, legt das Alte Testament eine Chronologie vor, die im christlichen Gebiet vom 16. bis 19. Jahrhundert allgemein Gültigkeit hatte und strukturell der heutigen Geschichtsschreibung zugrundeliegt.
Besonders schwierig an dem alttestamentlichen Zeitschema war dessen Anbindung an den aktuellen Zeitpunkt, also die Beantwortung der Frage, wie viele Jahre vergangen sein mögen zwischen dem Makkabäerkrieg als dem letzten im Alten Testament berichteten Ereignis und, sagen wir, dem Jahr 1530, als diese Texte übersetzt und teilweise dem Volk zugänglich gemacht wurden. Das Alter der Sagen, der Abstand zwischen Mythus und Jetzt, blieb ungewiß. Die Antworten schwankten im Jahrtausendbereich.
Wie bei der Herstellung von Geschichte in der Renaissance ist auch bei der Niederschrift der Bibel der wichtigste Umstand nicht aus den Augen zu verlieren: Das alles war nur möglich und konnte widerspruchslos aufgenommen werden, weil kein anderes Material vorlag, weil also die neuen Texte – als alte Überlieferung angeboten – eine Lücke füllten, die schmerzlich war und anders nicht gefüllt werden konnte. Man nahm die literarischen Schöpfungen dankbar an.
Die Katastrophe, die diese Lücke verursacht hatte, konnte man so schnell wie möglich überdecken, indem man ‚heilige‘ Schriften von früher hochhielt, auch wenn sie – wie wir heute sehen – erbärmlich schlecht und eilig hergestellt waren. Sie erfüllten ihren Zweck. Zur Kritik und zum Gelächter fehlte den allermeisten die Übersicht und der Einblick. Wer bei Null anfängt, ist über jeden Schnipsel erfreut.
Die dabei praktizierte Technik, nämlich die Verwertung schriftlicher Zeugnisse, die kaum älter waren, wurde auch bei anderen Literaturzeugnissen angewandt, wie ich erstaunt bei dem Arabisten Paul Kunitzsch (1996) lese. Er bespricht die orientalischen Personen- und Ortsnamen in den Werken von Wolfram von Eschenbach (1170-1220), besonders im Parzival und Willehalm, und stellt fest: „Schriftliche Quellen also sind es, Texte, in denen wir die Vorbilder und Vorlagen für Wolframs zeitgenössische Orientalia zu suchen haben.“ (S. 93) Trotz angeblich ausgiebiger Verbindungen mit dem Orient über Handel und „Kreuzzüge“ ist dem Abendländer keiner der persischen oder arabischen Begriffe geläufig, ausgenommen Stoffqualitäten wie Seide, Musselin (aus Mossul) oder Damast (aus Damaskus) oder Gewürznamen. Nur schriftliche Vorlagen werden von Wolfram übernommen. Es handelt sich bei den Zitaten Wolframs um literarische Auszüge, die nur Leute verstanden, die ähnliches gelesen hatten. Und damit ist die Technik der Herstellung auch dieser Dichtungen geklärt: Es sind Verwertungen von schriftlichen Quellen, nicht volkstümlichen Kenntnissen.
Kunitzschs Ergebnis spricht eindeutig gegen eine Aufnahme dieser Dichtungen im Volk, ja gegen eine Herstellung dieser Dichtungen für das Volk. Es sind literarische Produkte für eine gebildete Leserschaft, wie sie erst die Renaissance kannte. Das erlaubt mir noch einen weiteren Schluß: Obgleich es viele tausend Orientfahrer, „Kreuzritter“, gegeben haben müßte, die in die Heimat zurückkehrten, weiß doch niemand im Volk etwas mit deren Berichten oder den Namen anzufangen. Sie existieren nur in den ‚Chroniken‘, sind erdichtete Geschichte. Die vermeintlich ritterlichen Dichtungen sind Arbeiten zur Herstellung einer unbekannten Vergangenheit, Historikerwerke im besten Sinne. (Zur Zeitstellung des Willehalm siehe auch oben Teil 6).

Literatur

Friedman, Richard (1989):: Wer schrieb die Bibel? So entstand das Alte Testament (engl. 1987; 2. Aufl. Köln 2007)
Detering, Hermann (2011): Falsche Zeugen. Außerchristliche Jesuszeugnisse auf dem Prüfstand (Alibri, Aschaffenburg)
Gil, Juan (1987): El libro de Marco Polo anotado por Cristóbal Colón (Alianza Ed., Madrid)
Heinsohn, Gunnar und Steiger, Otto (1985): Die Vernichtung der weisen Frauen (München)
Hirsch, Friedrich (1956): Der Sonnwendbogen (postum 1965, Lahr im Schwarzwald)
Kammeier, Wilhelm (1935): Die Fälschung der deutschen Geschichte (Leipzig; Nachdr. Wobbenbüll 1980; 11. Aufl. Viöl 1999)
Kunitzsch, Paul (1996): Reflexe des Orients im Namengut mittelalterlicher europäischer Literatur. Gesammelte Aufsätze von 1969 bis 1989 (OLMS, Hildesheim)
Peuckert, Will-Erich (1944): Theophrastus Paracelsus (Kohlhammer Verlag, Stuttgart-Berlin)
Siepe, Franz (2002): (2002): Fragen der Marienverehrung (Mantis, Gräfelfing)
Topper, Uwe (1993): Das Letzte Buch. Die Offenbarung des Johannes in unserer Zeit (München)
(2006): Kalendersprung (Tübingen)
Wyneken, Gustav (1963): Abschied vom Christentum (2. Aufl., München)

Säugende

So stellte man die 'Fruchtbarkeit' an christlichen Kirchen dar: Romanik in Westeuropa

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