Das Rätsel um Aristarch von Samos
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Berlin · 2011  Uwe Topper topper

Das dem berühmten Griechen Aristarch zugeschriebene Büchlein „Über die Entfernungen und Größen von Sonne und Mond“, das von der Universität Cádiz kürzlich in spanischer Übersetzung wieder aufgelegt und besprochen wurde, stammt nicht von Aristarch und ist nicht sein so außergewöhnliches Buch über die Heliozentrik, das von Plutarch und anderen alten Schriftstellern erwähnt wird. Es stammt von einem Mathematiker und war als Rechenbeispiel zur Trigonometrie gemeint, vermutlich in der Renaissance geschrieben ohne astronomische Kenntnisse.
Das echte Buch des Aristarch zur Heliozentrik ist bekanntlich verloren. Daß das fälschlich dem Aristarch zugeschriebene Büchlein aus der Renaissance stammt, hat wohl noch keiner gemerkt, obgleich das schon am Stil erkennbar wäre.
Ein echtes Buch über Heliozentrik muß aber existiert haben – auch Kopernikus beruft sich darauf – und das gibt uns das Rätsel auf: Wie hat Aristarch herausgefunden, daß die Erde sich dreht und daß die Sonne nicht um die Erde kreist sondern umgekehrt, die Erde um die Sonne?
Folgendermaßen wäre es möglich gewesen: Die Tagesrotation der Erde ist eine mögliche logische Folgerung aus der Beobachtung der unterschiedlichen Tageslänge an Orten verschiedener Breite der Erde. Diese unterschiedliche Tageslänge war zu Zeiten der griechischen Mathematiker bekannt und auch mit Werten angegeben.
Ich nehme ein extremes Beispiel heraus und ergänze es: Am Tag der Sommersonnenwende geht die Sonne für einen Beobachter auf dem nördlichen Wendekreis (etwa in Assuan, griechisch Siene) senkrecht im Osten auf und im Westen unter, sie beschreibt einen genauen Halbkreis von 180°. Weiter nördlich geht sie an diesem Tage nördlich des Ostpunktes auf und ebenfalls nördlich des Westpunktes unter. Je weiter ich auf der Erde nach Norden fortschreite, desto kleiner wird der Kreis der Sonne am Himmel. Dabei wird der sichtbare Ausschnitt des Vollkreises immer größer (200°, 210° usw.) Am Polarkreis ist an diesem Tag der ganze Kreisumlauf der Sonne zu sehen, 360°, und dieser ist etwa 24° schräg zum Horizont geneigt (ein Fünfzehntel des Gesamtkreises, wie die Griechen sagten). Weiter nach Norden wandernd wird der Beobachter feststellen, daß der Gesamtsonnenkreis weiterhin immer kleiner wird und am Pol zu einem Punkt geschrumpft ist: Die Sonne steht hier an immer derselben Stelle, nur die Erde dreht sich, wenn man einen vom Pol entfernten Punkt im Verhältnis zur Sonne anpeilt. Der Einwand, daß diese Mechanik auch funktionieren würde, wenn die Sonne um die Erde kreisen würde, ist sehr leicht zu widerlegen: Die Sonne müßte dann der Erde sehr nahe stehen, so nahe wie der Mond, was nicht der Fall sein kann, wenn man das Phänomen der Sonnen- und Mondfinsternisse durchdenkt.
Dieses Gedankenspiel kann jeder Grieche aus den Werten der Tageslänge und der Höhe des Sonnenstandes im Verhältnis zur geographischen Breite entwickelt haben. Auch Aristarch.
Für die Wanderung der Erde um die Sonne – also ihre Jahresrotation – muß er eine ähnliche Überlegung anstellen: Die Mittagshöhe der Sonne ändert sich von Tag zu Tag, erkennbar als wechselnde Schiefe der Polachse zum Horizont im Verlauf eines Jahres.
Wenn man bedenkt, daß alle acht Sphären des Aristoteles dasselbe Ergebnis liefern, wenn also achtmal behauptet wird, daß die Bewegung der Sonne und der Planeten und der Sterne nur mathematisch erklärbar sei, wenn man annähme, die Erde stehe im Mittelpunkt, dann erfordert das viel Gutmütigkeit gegenüber der einmaligen Annahme, die Sonne stehe im Mittelpunkt.
Verstärkt wird der Gedanke durch die Beobachtung, daß die Tagesbögen der Sonne im Sommer sehr groß, im Winter sehr klein sind, also nicht nur von der geographischen Breite des Beobachters abhängen, sondern auch von der Jahreszeit. Die Sonne hat eine gewisse Schwankungsbreite ihrer Bahn, je nach ihrer Entfernung vom Frühlingspunkt in beiden Richtungen etwa gleichweit. Aber kann die Sonne schwanken? Oder schwankt die Erde? Beides ist nicht denkbar, sondern : die Stellung von Sonne und Erde zueinander ändert sich im Laufe des Jahres. Das kann nicht durch die Eigenumdrehung der Erde verursacht sein, sondern muß die Folge der Wanderung der Erde um die Sonne sein. Wenn die Erde starr schräg steht und sich im Laufe des Jahres um die Sonne bewegt, kehrt sie ihr einmal mehr die Nordseite, dann mehr die Südseite zu, und so entstehen Sommer und Winter mit ihren ungleichen Tagesbögen.
Warum hat man damals nicht diese Überlegungen übernommen ins allgemeine Schulmaterial? Jemand schrieb sogar (vermutlich in der Renaissance), daß man Aristarch für diese Gedanken zum Tode verurteilt habe oder es wollte. Das ist für die gedachte Antike natürlich Unsinn, aber es zeigt, wo das Problem beginnt: Wenn die Erde nicht der Mittelpunkt ist, sondern die Sonne, dann kreisen vielleicht auch die anderen Planeten nicht um die Erde sondern um die Sonne und sind damit Himmelskörper wie die Erde; auf ihnen könnte sogar Leben sein und ein Gott angebetet werden, der auch dort seinen Sohn opferte usw.
Es sind wohl die Widerstände der Monotheisten, die das vernünftige Weltbild verhinderten und Geozentrik als Richtlinie erzwangen. Aber das kann doch nur bei den Gläubigen durchgesetzt worden sein, nicht bei den Heiden, möchte man ausrufen. Vielleicht war es auch so. Was wir von der Geschichte wissen, auch von der Geschichte der Naturwissenschaften, ist nur die theologische Gestalt, die monotheistische Form der Überlieferung. Die anderen Formen sind unterdrückt worden, sind vernichtet.
Ein anderer Einwand wurde vorgebracht: Wenn zwei Körper sich zueinander in Bewegung befinden, kann man nicht durch Beobachtung feststellen, welcher davon sich bewegt. Es könnten sogar beide Körper umeinander rotieren. Der Gedanke des Aristarch ist darum nicht schlüssig. Er gewinnt allerdings an Wahrscheinlichkeit, wenn sich alle Körper in praktisch gleicher Weise zum Beobachter verhalten, also sowohl Sonne und Mond als auch Planeten und Sterne. Wenn sie alle die Deklination mehr oder weniger mitmachen (eine Ausnahme macht der Mond mit seinen Knoten, die fünf Grad in beiden Richtungen abweichen, er kreist also wohl doch um die Erde), dann bleibt nur die Folgerung, daß es die Erde ist, die sich bewegt. Oben wurde auch schon gesagt, daß das Entfernungsverhältnis einen Anhaltspunkt geben kann, welcher von beiden Körpern sich bewegt: Die so unfaßbar weit entfernte Sonne müßte stillstehen, vergleicht man ihre Bewegung mit der des Mondes. Insofern könnte das echte Buch des Aristarch, das verlorenging, einen ähnlichen Titel gehabt haben wie das in der Renaissance aufgetauchte: „Über die Entfernungen und Größen von Sonne und Mond“.

Uwe Topper, Berlin 2011

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