Fotografien aus dem unveröffentlichten Manuskript

"Reise zum Westrand der Alten Welt"

Teil 1: Heiligtümer am iberischen Atlantik

 

Alminhas

"Alminhas" – die Seelen der Verstorbenen warten im Fegefeuer auf den Jüngsten Tag.
Stelen mit Bildern dieser Art stehen überall im Land an Wegkreuzungen, Wasserläufen oder Brücken; man legt Geld in den Kasten oder Blumen oder zündet Lichter an und spricht einen Segenswunsch zur Erlösung der Seelen.

 

Friedhof Galicien

Friedhof an einer Ria in Galicien

 

Gottesmutter Galicien

Die Gottesmutter mit ihrem Kind überschaut die Ria (Galicien)

 

Jakob Fels

Auf dem Gipfel steht das Kreuz des wahren Jakob: Iria Flavia oder heute: Padron, der Fels, auf dem Jakob seine erste Predigt hielt.

 

Jakob Durchschlupf

Durch den Felsen des wahren Jakob muß eine junge Frau kriechen, wenn sie Schwangerschaft erbittet.

 

Volkstanz Portugal

Nach den Riten der Wallfahrt tanzen die Fischer und Bauern

(alle Fotos: U. Topper)

Soweit zum Einfühlen. Nun kommt ein erster Text, ohne Vorrede oder Einführung. Das Manuskript des Buches hatte ich 1988 zusammengestellt und zehn Jahre später wurde es vom Diederichs-Verlag zur Veröffentlichung angenommen. Daß es dann doch nicht klappte, lag an der schlechten Finanzlage des Verlages. Wenn nun heute ein Verleger Lust verspürt, dieses Manuskript herauszubringen, würde ich mich freuen; dann wäre es wohl leichtsinnig, wenn ich den gesamten Text schon hier offenlegte. Darum erstmal nur Teil 1, Kapitel 1: "Das Heiligtum des Sankt Andreas von Teixido".
So fängt die Reise an, in Galicien an der Nordwestecke Spaniens, geht dann die ganze iberische Atlantikküste nach Süden bis zur Straße von Gibraltar, und im 2. Teil an der marokkanischen Atlantikküste entlang bis zur Wüste: die Berberküste mit ihren alten Heiligtümern. Dabei wird allmählich klar, daß die ganze Küste kulturell und religiös in Worten und Handlungen eine alte Einheit bildet, die noch heute spürbar ist. Rückbezüge auf megalithische Bauwerke und Felsbilder bringe ich am Rande, sie zeigen, wie alt der Zusammenhang dieser Gebiete ist.

Kapitel 1
Die Pilgerfahrt, die man lebendig oder tot machen muß

San André de Teixido

Von zwei Seiten vom Atlantik umspült, von Regen und Stürmen reingewaschen, von fruchtbaren Tälern durchzogen, liegt Galicien wie eine felsige Halbinsel im äußersten Nordwesten Iberiens. Etwa 60 km Luftlinie von der Hauptstadt La Coruña in nordöstlicher Richtung liegt hoch über dem Meer und nahe der Steilküste - der höchsten Europas - ein kleines Heiligtum, San André de Teixido. Hier spielt sich alljährlich am Tage des Heiligen Andreas eine seltsame Wallfahrt ab, die ganz altertümliche Riten und Glaubenselemente noch bewahrt hat. Während der übrigen Tage im Jahr herrscht hier grandiose Einsamkeit; wilde Pferde und eine heillkräftige Quelle, der Blick über den unermeßlichen Ozean, die schwindelerregende Höhe der senkrecht abstürzenden Küste - all das kann einem Wanderer schon einen Eindruck vermitteln, der diesen Ort unvergeßlich macht.
Aber erst die Kraftentfaltung am Wallfahrtstag läßt ahnen, warum dieser Ort einst zum Einweihungsziel geworden ist. Die Pilger bringen Gebildebrote mit, aus Teig geformte Tauben, Boote und Himmelsleitern, Sinnbilder eines friedlichen Glaubens, in dem Geistiges und Handwerk, Überlebenskampf und Belehrung zusammenfließen. Himmel und Erde bündeln ihre Strahlung und lassen die Menschen gesunden. Von der Einweihungszeremonie selbst ist nicht mehr viel erhalten, des kirchliche Dogma hat sie ersetzt. Aber die Erinnerung lebt in Sprüchen und Mythen weiter, aus denen erkennbar wird, daß hier Riten zur Überwindung des Todesbewußtseins ausgeführt wurden:

A San André de Teixido

vai de morto o que non foi de vivo!

Was übersetzt bedeutet: Wer nicht im Leben zum San Andreas von Teixido pilgerte, der muß es im Tode tun!


Warum das? wird mancher fragen. Ganz einfach: Wer zu Lebzeiten dorthin pilgerte, lernte genügend über seinen weiteren Weg nach dem Sterben, sodaß er sich im Jenseits gut zurechtfand, wogegen jene, die diesen Weg nicht im Leben erfahren hatten, nach dem Sterben dort Zuflucht suchten und Belehrung erwarteten über ihren Zustand.
Man stellte diesen gespielten Todesdurchgang zu Lebzeiten sicher in ganz realistischer Weise dar, wobei man allerdings Metaphern gebrauchte, die das Verständnis des Unsagbaren ermöglichen sollten. Uns werden diese bildlichen Lernhilfen heute nicht mehr viel sagen - sie waren ja eingebettet in die ganze Lebensform jener Menschen, entsprachen ihrer Weltanschauung und Umwelt. So glaubten die Pilger damals, wenn sie im Heiligtum von Teixido in ritueller Weise "starben", daß sie zu Eidechsen und Schlangen wurden. An dieser Vorstellung läßt sich das hohe Alter des Kultes ablesen; auf iberischen Felsbildern der Bronzezeit wurden Menschen in Eidechsengestalt dargestellt, und in vielen Sagen wird die Verbindung oder Verwandlung von Menschen in Frösche, Schlangen oder ähnliches - und ihre Rückverwandlung - beschrieben.
Heute ist in Teixido nur noch die Erinnerung daran vorhanden: Während der Wallfahrt werden Eidechsen, Frösche und Schlangen respektiert, niemand darf ihnen ein Leid zufügen.

Von den vielen Begebenheiten, die Pilger - und Heimatdichter in diesem Zusammenhang erzählen, sei die folgende erwähnt, weil sie den alten Glauben am treffendsten wiedergibt: Ein Sohn erzählt seinem Vater, während er eine Eidechse in der Hand hält: Hör mal, Vater, was die Eidechse mir gesagt hat: "Ich muß zum Heiligen Andreas in Teixido pilgern," sagt sie, "weil ich ein Versprechen einlösen muß, das ich einst im Leben gab. Nun bin ich in dieser Eidechse verkörpert und es wird sehr lange dauern, bis ich wiederkehren kann. Bitte achte auf meine Grabnische und schau hin und wieder mal nach meinem Skelett, denn mein Nachbar in der Grabwand ist ein Humpler, er könnte mir ein Bein rauben wollen."
Mir geht es hier weniger um die Komik der Anekdote als um die darin zutage tretende Weltanschauung: Wer sein Versprechen gegenüber dem Heiligen nicht im Leben einlöste, wird in eine Eidechse verwandelt und muß nun auf diese - viel beschwerlichere und langwierigere - Art dorthin pilgern. Dabei ist wohl der Ausdruck "wiederkehren" absichtlich in diesem doppelten Sinne gebraucht worden: die Rückkehr von Teixido und die Rückkehr in die menschliche Gestalt.

Daß die Pilgerfahrt zum Heiligen Andreas von Teixido tatsächlich von enormer Bedeutung für ganz Galicien war, ist aus vielen Berichten noch erkennbar. Etwas makaber mutet diese kleine Geschichte an:
Bei einer Wallfahrt entdeckten zwei Knaben einen Totenschädel und trieben ihn mit Fußtritten wie einen Ball bis zur Kirche. Da dankte ihnen der Schädel und sagte, alleine hätte er den Rest der Reise nicht mehr geschafft.
Vergeistigter ist die folgende Sitte, die nicht nur hier sondern auch an anderen Heiligtümern vorkommt, hier aber durchaus zum allgemeinen Brauchtum gehörte:
Wer starb, bevor er die Pilgerfahrt nach Teixido ausfahren konnte, muß sie im Tode nachvollziehen, wie wir schon hörten. Und das gilt besonders dann, wenn er es schon versprochen hatte. Die Angehörigen helfen ihm dabei: Am Tag vor der Wallfahrt gehen sie zu seinem Grab, öffnen die Nischentür und teilen dem Toten die Absicht zur Pilgerfahrt mit. Am nächsten Tag steigen sie dann mit dem Toten (im Geiste) in den Omnibus, lösen auch einen Fahrschein für ihn, und wenn sie umsteigen, sprechen sie mit dem Toten darüber, damit er nicht im Gewühl der Leute verloren geht. An der Kirche angekommen melden sie ihm, daß sie nun angelangt sind, vollführen mit ihm die Gebete und Strafriten, sie rutschen also mit ihm auf den Knien, trinken für ihn aus der heiligen Quelle, geben Almosen in seinem Namen, nehmen auch gemeinsam die Mahlzeit ein und verteilen seinen Anteil an arme Pilger. Auch die Rückfahrt machen sie mit dem Toten, bringen ihn - natürlich nur seinen Geist - zum Friedhof zurück und schließen die Nischentür wieder.
Auf diese Weise erhielt der Verstorbene doch noch die nötige Einweihung über den Nachtodzustand und die Hilfe zur Wiedergeburt und kann nun "ruhen".
Die alten Einweihungsriten wurden schrittweise durch die Kirchenoberen ersetzt und sind heute größtenteils vergessen oder werden sinnentleert ausgeführt. Die stufenweise Umwandlung des heidnischen Kultes braucht viele Jahrhunderte. Ein Beispiel dafür ist das Idol selbst! Am Altar in der Kirche befindet sich eine Holzfigur des Sankt Andreas in der Manier des Barock, aber wer sich auskennt, bittet den Pfarrer, die "echte" Figur berühren zu dürfen. Sie wird in der Sakristei aufbewahrt, ist kleiner und älter als die heute offizielle, und enthält als Reliquie einen Finger des Heiligen.
Die phallische Bedeutung des Fingers ist offensichtlich. Sankt Andreas von Teixido ist tatsächlich ein Fruchtbarkeitshelfer im alten Sinne. Unter den Pilgern sind stets viele Mädchen, die heiraten wollen oder Frauen, die um Kinder bitten. Möglicherweise fand früher in der Nacht eine Orgie statt, bevor die Kirche dergleichen verbot. Aus den Verbotstexten kann man jedenfalls herauslesen, daß an vielen dieser Fruchtbarkeitsorte ausgelassene Freizügigkeit herrschte und nächtlich Orgien durchgeführt wurden, (wie auch heute noch an einigen Berberheiligtümern). Am Abhang unterhalb der Kirche wächst das "Kraut, das verliebt macht", und daneben die Binse, die bei der Geburt hilfreich ist. In einem Liedchen heißt es, daß die Mädchen in Teixido beim Auf und Ab am Berghang ihr Haarband verloren - vielleicht nicht nur das Band, das die Haare hält, sondern den ganzen Gürtel...
Obgleich der Name Teixido von Taxus = Eibe abgeleitet wird, was nicht stimmen muß, werden doch Schläge mit Haselstrauchgerten als fruchtbarkeitsfördernd ausgeführt. Und die silberne Sardine am Gürtel des Heiligen deutet ebenfalls auf große Vermehrung hin, wie bei allen Fischern am Atlantik.
Besonders kindersegenfördernd soll ein Bad im wilden Meer am Fuße des Steilhangs sein. Aber dazu gehört Mut. Während ich hinabsteige, wachsen die losen Steinbrocken, die ich tief unter mir sah, zu enormen Felsen an, zwischen denen mit wildem Getöse die von weit heranrollenden Wogen sich brechen. Nur wer geschickt und furchtlos ist, nimmt ein Bad in dem eisigen Wasser. Viele Stunden am Tage hüllt Nebel die vorgelagerten Felsen ein. Der größte wird als Barke des Heiligen Andreas bezeichnet, und wirklich: wie ein Bootsbug ragt der Fels aus dem Wasser. Hier sei der heilige Mann in seinem Boot an Land getrieben, erzählt die Legende.
Aber einen Strand gibt es hier nicht, und ein Hafen ist undenkbar. Man nennt diese Küste auch Costa da Morte, Todesküste, aber nicht nur wegen der Gefahren, die sie für die Fischer birgt, sondern auch wegen des Totenkultes, der zum Wesentlichen des Glaubens hier gehört.
Fruchtbarkeitssinnbilder wie Frösche und Schlangen einerseits, Einweihung in die Geheimnisse des Todes andererseits - wie hängt das zusammen? Sind es nicht echte Gegensätze? Gewiß, Geburt und Tod gehören zueinander, sie ergänzen sich. Wer geboren wurde, muß sterben, das ist uns geläufig. Das Umgekehrte schon weniger: ohne Tod gibt es kein neues Leben.

Dem Menschen der Jungsteinzeit war aber gerade dies besonders deutlich gewesen: Wenn er sein Getreide auf den Acker warf und sterben ließ, konnte er später vielfältig ernten. Schon die Jäger der Altsteinzeit hatten diesen Glauben gehabt: Wenn ein Tier starb, wurde es wiedergeboren. Der Durchgang durch den Tod war der eigentliche Jungbrunnen, in dem sich alles erneuerte. Ohne Tod gab es für die Menschen keine Geburt.
Allerdings gehörte dazu genaues Wissen. Nicht alles getötete Leben kehrte wieder, denn eine Wiedergeburt ist kein reiner Automatismus! Sie muß gelenkt werden, und vor allem: sie kann verbessert werden. Dazu wird der Geist durch die Einweihung befähigt durch den rituellen Tod, aus dem der Einweihungswillige ins Leben zurückkehrt. Nicht abstraktes Wissen, sondern Erfahrung, Erlebnis, führen zu der Erkenntnis, daß Zeugung und Tod im Grunde eins sind. Darum gehören Fruchtbarkeitsritus und Totenkult untrennbar zusammen. Als besonders mit Glück bedacht wurde der Pilger gepriesen, der auf der Wallfahrt - am besten auf dem Rückweg - starb. An dieser Stelle errichtete man Steinhaufen, zu der jeder Pilger alljährlich einen weiteren Stein hintrug.
An diesen Steinhaufen brachte man Gaben als Opfer dar, meist Lebensmittel, die man dem Wetter und den Raben aussetzte. Andere Opfer warf man ins Meer, mitgebrachte Speisen verzehrte man selbst und gab nur einen Anteil weg. Eines Tages, so glaubt man, werden die Gaben vielfältig wiederkehren. Was die Vögel oder Mäuse verzehrten, Wind oder Regen fortnahm, wird einmal reichlich zurückkommen, so wie die Toten wieder geboren werden.
Dazu gehört Vertrauen, das wohl nur aus Erfahrung entstanden sein kann. Diese Opfer hatten nichts mit der Mildtätigkeit zu tun, die uns erfaßt, wenn wir Geld in eine Sammelbüchse stecken. Diese Opfer hatten ihre Funktion im Kreislauf der Lebensformen.
Noch viel stärker und ursprünglicher begegnete uns dieses Vertrauen in die Gesetzmäßigkeit der All-Einheit, in der nichts verloren geht, in den Heiligtümern der Berberküste, die denen in Galicien in geistiger Hinsicht sehr ähnlich sind. Auch dort sahen wir die Steinhaufen und fanden die vollkommene Integration von Fruchtbarkeitskult und Jenseitslehren vor.

Wer heute zum San André de Teixido fahren will, kann dies an allen Tagen im Jahr und auf mehreren Wegen tun. Er muß nicht mehr zu Fuß gehen und auch nicht das Pilgergewand tragen, das ein einfacher ärmelloser Umhang mit spitzer Kapuze war, der Form nach wohl das älteste Gewand des Menschen. Und er braucht sich auch nicht mehr in die Geheimnisse des Lebens und des Todes einweihen zu lassen, das ist schon lange vorbei. Aber ein kleines Opfer sollte er vielleicht mitbringen, und vor allem die Eidechsen und Schlangen beschützen, wie es alle Pilger noch heute tun.

Wer gerne im großen Strom der Pilger mitgeht, sollte einen der wichtigen christlichen Feiertage auswählen, Pfingsten oder Sankt Johanni (24. Juni), Mariä Himmelfahrt oder den Tag danach (16. August), Mariä Geburt oder ebenfalls den Tag danach (9. September) und vor allem das dritte Wochenende im September. Der Höhepunkt ist die Messe am Feiertag des Heiligen Andreas, dem 30. September.
Auf zwei Straßen kann man nach Teixido gelangen: Westwärts an der Kantabrischen Küste entlang über Ortigueira, Sismundi und Landóy, oder von Westen her über Cedeira. Dies ist die bessere Autostraße. Nicht weit von La Coruña nimmt man in Betanzos die Straße in Richtung Ferrol, überquert den Eume-Fluß bei Pontedeume und fährt immer weiter nach Norden bis Atios, dann ostwärts nach Cedeira und dann eine steile Strecke durch schönen Kiefernwald bis zur Höhe, von wo sich der Weg abwärts zum Heiligtum windet.
Und die Gebildebrote - das sei noch angefügt - werden ohne Hefe und Salz, nur aus Mehl und Wasser im Ofen gebacken, wie die „ungesäuerten Brote“ beim Passah-Fest, wie Nomadenbrot allgemein, wie Oblaten für das Abendmahl.

Andre Teixido

San André de Teixido


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